Kommentar zur EU und den Flüchtlingen Nur mit Erdogan

Man könnte es Erpressung nennen. Der türkische Staatspräsident hat Europa in der Hand. Ohne tatkräftige Mithilfe von Recep Tayyip Erdogan bekommt die EU das Flüchtlingsproblem nicht in den Griff.

Dass der sich den Deal vergolden lässt, bleibt nachvollziehbar. Seine Wunschliste umfasst praktisch alles, woran in den vergangenen Jahren eine Annäherung Ankaras an die Gemeinschaft gescheitert ist. Visa-Erleichterungen, Neustart der Beitrittsverhandlungen und eine stattliche Summe von drei Milliarden Euro für den Bau von zusätzlichen Lagern. Natürlich wird Europa zustimmen. Der Druck von Hunderttausenden Asylbewerbern ist zu groß. Und ohne Erdogans Hilfe lässt er nicht nach. Längst hat ein Zersetzungsprozess innerhalb der EU begonnen: Hardliner im Osten gegen den großen Rest der Gemeinschaft, die derzeit keine mehr ist. Erdogan wäre dumm, wenn er diese Situation nicht politisch für sich ausschlachten würde. Zumal innere Korrekturen mit Blick auf Demokratie, Freiheit, Bürger- und Menschenrechte nicht einmal gefordert werden. Der Vorwurf, dass die EU ihre eigenen Werte verrät, ist nicht unbegründet.

Vor diesem Hintergrund fällt es schwer, von einer neuen Liebe der beiden Seiten füreinander zu sprechen. Was Europa und die Türkei gerade zusammenschweißt, ist eine Zweckgemeinschaft. Nicht mehr. Und dennoch tut die Union gut daran, Erdogan nicht länger zu verteufeln. Der türkische Staatspräsident tritt zwar europäische Errungenschaften mit Füßen, aber er ist und bleibt ein berechenbarer und stabiler Ordnungsfaktor in einer Region, die instabiler nicht sein könnte. In den europäischen Hauptstädten weiß man, dass die sonst so wirkungsvolle Beitrittsperspektive, die auf viele Regierungen disziplinierend wirkt, in Ankara nicht länger zieht. Erdogan hat seinen Landsleuten nach dem Stillstand bei den Vorbereitungen für eine Vollmitgliedschaft gezeigt, dass das Land auch andere Freunde haben und ein Leben außerhalb der EU auch seine Vorteile haben kann. In dieser Situation bleibt Europa - abgesehen von der Hoffnung auf eine Lösung in der Flüchtlingskrise - nur die vage Hoffnung, dass Annäherung den Wandel bringt. Ob Schulterschluss, Umarmung oder Zweckgemeinschaft - das Wiederentdecken der Tatsache, dass sich beide brauchen, kann die Landkarte verändern. Die Türkei als europäischer Vorposten in dieser Region wäre eine vielversprechende Rollenverteilung. Außenpolitik braucht viele Instrumente, eines davon wird die EU nun nutzen.

Insofern ist es falsch, Erdogan als den einzigen Gewinner des Aktionsplans und der wiederentdeckten Gemeinsamkeit zu verstehen. Beide Seiten profitieren voneinander, Europa kann sich die Repräsentanten seiner Nachbarstaaten nicht aussuchen - oder diese dauerhaft übergehen. Der türkische Präsident muss eingebunden werden.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zwei deutsche Gewinner des Duells mit
Euphorie im Anflug
DFB-Team überzeugt gegen FrankreichEuphorie im Anflug
Zum Thema
Donald Trump muss sich ab 15.
Der Kaiser ist nackt
Kommentar zu Donald TrumpDer Kaiser ist nackt
Der Bahnstreik ist abgewendet
Kommentar zur Einigung zwischen GDL und Bahn Der Bahnstreik ist abgewendet
Aus dem Ressort
Überflüssig
Kommentar zur VorratsdatenspeicherungÜberflüssig
Das Märchen
Kommentar zur Fußball-WM in Deutschland 2006 Das Märchen
Sterile Aufregung
Kommentar zur Debatte um den Bundesnachrichtendienst Sterile Aufregung
Hexenjagd
Kommentar zur Diesel-Rückrufaktion Hexenjagd