Kommentar Oettinger-Kritik an der EU - Finger in der Wunde

Da hat EU-Kommissar Oettinger ja mächtig hingelangt. Seine Brandrede zur Europäischen Union, eigentlich als Festvortrag vor der Deutsch-Belgisch-Luxemburgischen Handelskammer geplant, scheuchte am Mittwoch viele Vertreter der europäischen Funktionärs- und Politikergilde auf.

In den Reaktionen gab es vorwiegend Kritik an Oettinger. Doch die dürfte eher taktisch-strategische Ursachen denn inhaltliche haben. Die drastische Wortwahl Oettingers mag man kritisieren, mag sie als etwas überzogen bezeichnen. Aber die Diagnose an sich sollte man dringend Ernst nehmen.

Dazu eines vorweg: Zur Europäischen Union gibt es keine Alternative. Die Globalisierung fordert ein starkes, gemeinsames Europa mit gemeinsamer Währung und einer abgestimmten Außen-, Wirtschafts- und Sicherheitspolitik. Nur so kann sich der Kontinent mittel- und langfristig in der Welt behaupten.

Um das zu erreichen, muss man sich aber kritischen Äußerungen stellen, anstatt sie mit den üblichen politischen Reflexen zu verdammen. Womit wir wieder bei Oettinger und den Reaktionen wären. Wer will ernsthaft leugnen, dass Italien "kaum regierbar" ist? Die dortige Politik ist blockiert, das Parlament zersplittert, die Regierungsbildung erinnerte eher an Roulette denn an seriöses politisches Wirken.

Und wer will wirklich abstreiten, dass Frankreich mit seinen dringend notwendigen Reformen nicht vorankommt? Der französische Präsident Hollande lobte noch in der vergangenen Woche beim 150. Geburtstag der SPD unter anderem die mutige Reformpolitik und die Agenda 2010 von Bundeskanzler Schröder. Selbst aber kommt Hollande in der Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie im Bildungswesen seines Landes keinen Millimeter voran. Er laviert statt zu agieren.

Was Griechenland, Portugal, Spanien, Bulgarien, Rumänien und einige andere europäische Staaten angeht, so sind deren Finanz- und Wirtschaftssituation kein Geheimnis. Es brodelt unter der Oberfläche, und niemand in Europa weiß wirklich, wo die nächsten Eruptionen stattfinden.

Selbst Oettingers Kritik an Deutschland ist nicht so leicht von der Hand zu weisen. Europas Primus wird von der EU-Kommission wegen seines Reformstaus kritisiert, auch die Sparbemühungen bleiben halbherzig. Die Ausgaben befinden sich auf Rekordniveau, werden aber dank der weiterhin guten Konjunktur von den noch höheren Einnahmen mehr als ausgeglichen. Dennoch ist zu fragen, ob sich Deutschland weiterhin nur auf die funktionierende Einnahmeseite verlassen will.

Da wirtschaftliche Entwicklungen grundsätzlich auch von Stimmungen abhängen und bekanntlich zu einem ordentlichen Teil Psychologie sind, sollte man die Lage Europas nicht schlechtreden. Aber man darf und muss Fehlentwicklungen ansprechen. Nichts anderes hat Oettinger getan.

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