Kommentar Pflegenotstand - Kranke Gesellschaft

Bonn · Wie gesund eine Gesellschaft tatsächlich ist, lässt sich weniger an ökonomischen Daten ablesen als an ihrem Umgang mit den Alten. Demzufolge ist Deutschland leider ein fast schon hoffnungslos kranker Patient. Wer nicht betroffen ist, verdrängt den Pflegenotstand so gut es geht. Die jüngere Generation reagiert meist nur mit einem schulterzuckenden Das-will-ich-nicht-erleben-müssen und geht dann zur Tagesordnung über.

Wer direkt betroffen ist, kann sich meist nicht mehr wehren. Allerdings gibt es noch eine Gruppe, die ist mittelbar betroffen: Das sind jene Angehörigen, deren Eltern zu Pflegefällen geworden sind. Schlimmer als die finanzielle Belastung, die viele von ihnen trifft, ist ihre Hilflosigkeit im Umgang mit den Missständen.

Man bekommt hautnah mit, was alles schief läuft und wie sehr die Eltern darunter zu leiden haben - und ist irgendwo gefangen zwischen den Geschäftemachern in der Pflegebranche, der bürokratischen Selbstgefälligkeit von Kassen und Medizinischem Dienst (MDK) und einer ignoranten Politik, die uns den im Ergebnis lächerlichen Pflege-Bahr ernsthaft als "Reform" verkaufen will. Es ist schlicht unerträglich.

Es fängt, weit vor einer Pflegebedürftigkeit, schon bei den Krankenhäusern an. Und hier ist nicht von ärztlichen Kunstfehlern die Rede oder von multiresistenten Keimen. Die größte Gefahr für alte Menschen besteht darin, dass sie in den Krankenhäusern ins Bett gelegt werden und darin dann auch zu bleiben haben, weil es nicht genug Personal gibt, um sie zu mobilisieren.

Ruckzuck wird da ein Blasenkatheder gelegt, weil es nicht einmal genug Krankenschwestern gibt, um die alten Leute zur Toilette zu bringen. Nach wenigen Wochen schon besitzen diese armen Patienten keine Muskeln mehr und haben das Laufen verlernt. So produzieren die Krankenhäuser Tag für Tag neue Pflegefälle: Nach "erfolgreicher Behandlung" geht es nicht mehr nach Hause, sondern direkt ins Heim. Aber in welches?

Wenn die Rente nicht reicht und das Sozialamt nicht einspringt, bleibt den Angehörigen die Wahl zwischen Pest und Cholera. Bei den härtesten Pflegefällen kostet ein normaler Heimplatz leicht bis zu 5000 Euro im Monat. Man kann sich leicht ausrechnen, wie groß das Minus ist, wenn die Pflegekasse gerade einmal rund 1900 Euro erstattet.

Da ist die Versuchung groß, nach etwas günstigeren Alternativen zu suchen - falls man denn sicher sein kann, dass die Qualität stimmt. Doch genau da versagt der Pflege-TÜV des MDK. Was ist davon zu halten, wenn ein günstigeres Heim noch eine passable Durchschnittsnote bekommt, weil der leckere Kuchen am Nachmittag die Wundliege-Geschwüre ausgleicht?

Eine Hoffnung bleibt: Die Zahl der Alten in unserer Gesellschaft nimmt zu. Irgendwann kommt niemand mehr an diesem Machtfaktor vorbei.

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