Kommentar Syrisch-türkischer Konflikt - Ein Stellvertreter-Krieg

Wie (un-)reif die Türkei für einen Beitritt zur mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten Europäischen Union ist, wird sich vor allem an ihrer weiteren Syrien-Politik zeigen. Bleibt sie, so wie von Bundesaußenminister Westerwelle gefordert, besonnen - oder erliegt sie irgendwann doch ihrer eigenen Kriegsrhetorik?

Eine massive militärische Intervention Ankaras würde den schleppenden Zerfall des Assad-Regimes zwar zunächst beschleunigen. Doch die Folgen für den gesamten Nahen und Mittleren Osten und darüber hinaus für den Weltfrieden wären unabsehbar. In praktisch allen Nachbarländern Syriens lagern, bildlich gesprochen, riesige Pulverfässer, an die ein ausgewachsener Krieg zwischen Syrien und der Türkei brennende Lunten legen würde.

Seit Ausbruch des Syrien-Konflikts vor anderthalb Jahren wachsen in der gesamten Region die Spannungen zwischen den Glaubensgemeinschaften der Schiiten und der Sunniten. Vor allem im Irak und im Libanon wird sehr genau beobachtet, wie der Aufstand der sunnitischen Mehrheit gegen das alawitisch dominierte System in Syrien verläuft.

Die schiitische Regierung in Bagdad sieht sich bereits in ihrem eigenen Land mit einem sunnitischen Aufstand konfrontiert und sieht ihr Heil zunehmend in einer Hinwendung zum Iran. Derweil ist die von Teheran wie von Damaskus gleichermaßen unterstützte libanesische Hisbollah jederzeit in der Lage, auch im Libanon einen Bürgerkrieg zu entfachen und/oder Israel verstärkt zu bedrohen.

Assad ist spätestens in größter Bedrängnis zuzutrauen, mit Hilfe der Hisbollah den Krieg auf den Libanon auszuweiten und Israel gezielt mit hineinzuziehen. Letztlich sind es auf regionaler wie auf globaler Ebene jeweils zwei gegnerische Blöcke, deren Machtbalancen immer instabiler werden: Der Türkei sowie den syrienkritischen Ländern Saudi-Arabien und Jordanien stehen Syriens Regierung selbst, der Iran, die irakische Regierung sowie die libanesisch-schiitische Hisbollah gegenüber.

Global betrachtet arbeitet zugleich ein westlicher Block um die USA und die EU gegen die mit Syrien verbündeten Mächte Russland und China. Die jüngsten Ankündigungen von NATO-Generalsekretär Rasmussen, wonach "alle notwendigen Pläne bereitliegen, um die Türkei zu schützen und zu verteidigen", machen einen unkontrollierbaren Stellvertreter-Krieg auf allen Ebenen nicht unwahrscheinlicher.

Ein Funke genügt, um eine katastrophale Kettenreaktion auszulösen. Dabei muss es nicht einmal der Despot Assad sein, der in diesem Sinne zündelt. Versteckte Angriffe der syrischen Aufständischen auf ihren Verbündeten Türkei könnten eine leider nur allzu berechenbare Reaktion Ankaras zur Folge haben. Dass ein EU-Beitritt der Türkei dann in weite Ferne rückte, wäre vor dem Hintergrund freilich nur eine Fußnote.

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