Kommentar Terror in den USA - Harte Probe

Der Mann, auf dessen Erwachen nicht nur Boston wartet, kann nicht sprechen. Zwangsweise. Dschohar Zarnajew hat es auf dem Rachefeldzug gegen das Land, das ihn zehn Jahre zuvor mit offenen Armen aufnahm, die Sprache verschlagen.

Nachwirkungen einer Schießerei mit der Polizei. Das Schweigen des einzigen Überlebenden des wirkungsmächtigsten Terroranschlags in Amerika seit dem 11. September 2001 - auf der Täterseite - stellt das Land auf eine harte Probe. Amerika hat viele Fragen an einen 19-jährigen Studenten, den Schulfreunde, Lehrer und Bekannte als intelligent, warmherzig und friedfertig beschreiben.

Dass und wie er sich an der Seite seines großen Bruders Tamerlan in ein Monster verwandelt hat, entzog sich ihrem Blickwinkel. Monster? Wie anders soll man charakterisieren, dass die Brüder mit Genugtuung dabei zusahen, wie ihre auf Massenmord ausgelegten Sprengsätze zündeten. Dschohar feierte zwei Tage später an seiner Universität eine Party.

Weil weiter unklar ist, ob das Brüderpaar von auswärtigen Terror-Netzwerken gesteuert und inspiriert worden ist oder auf eigene Rechnung gehandelt hat, wird sich die amerikanische Debatte auf diesen Fluchtpunkt konzentrieren: Was haben wir gemacht, dass zwei im Vergleich zu anderen lange Zeit höchst erfolgreiche und angepasste Einwandererkinder sich nach zehn Jahren auf abscheuliche Weise gegen ihre neue Heimat stellen?

Was muss geschehen sein, bevor sich zwei hoffnungsvolle Talente entschlossen haben, den "American Dream" in einen Albtraum münden zu lassen? Nun kommt zaghaft zum Vorschein, was Amerikaner wie Europäer seit 2001 gleichermaßen ängstigt: Junge Muslime, gebildet, scheinbar integriert, aber familiär entwurzelt, angewidert von den Zumutungen und überfordert mit den Chancen einer immer rasender konsumierenden Gesellschaft, hadernd mit ihrem Platz im Leben, auf der Suche nach Sinn, vergiftet durch missbräuchliche Islam-Propaganda, verwandeln ihre spirituell-religiöse Leere und ihren Selbstekel in Hass und blinde Gewalt.

Die Annahme, dass die Integrationsmaschine Amerika aus jedem früher oder später achtbare Patrioten machen kann, hat in Boston einen Rückschlag bekommen. In der Einwanderungsdebatte droht zum ungünstigen Zeitpunkt ein Wendepunkt. Elf Millionen illegal im Land lebende Zuwanderer hoffen auf eine Perspektive, um nachträglich echte Amerikaner werden zu können. Der Fall Zarnajew wird die politischen Bemühungen dafür empfindlich dämpfen. Mehr noch: Die Tragödie von Boston wird die Vergabe von Visa und Arbeitsgenehmigungen, beides dringend lockerungsbedürftig, voraussichtlich erschweren. Denn die alles überlagernde Frage lautet ab sofort: Wen holen wir uns da rein? Und können wir denen, die da sind, wirklich trauen?

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