Kommentar zum Anschlag in Ankara Türkische Tragödie
Zu dem schlimmsten Anschlag der türkischen Geschichte tritt die politische Tragödie der unüberbrückbaren Gegensätze in der Türkei. Selbst ein solches Blutbad vermag es nicht, eine Gemeinsamkeit der Demokraten entstehen zu lassen, in der alle Parteien des Parlaments zusammen gegen den Terror Stellung beziehen.
Die Polarisierung der türkischen Gesellschaft, die von der Regierung jahrelang aus wahltaktischen Gründen vorangetrieben wurde, ist inzwischen so beherrschend geworden, dass es kaum noch Brücken zwischen den verschiedenen Lagern gibt. In einer nationalen Notsituation wie nach dem Anschlag von Ankara müssten die Demokraten jetzt zusammenstehen und über die Parteigrenzen hinweg eine einheitliche Front gegen die Gewalttäter bilden. Doch davon ist in der Türkei nichts zu sehen.
Präsident Erdogan selbst hat durch seine parteiliche Amtsführung zugunsten der Regierungspartei AKP zudem die von der Verfassung vorgesehene politische Schiedsrichterrolle des Staatschefs ausgehebelt. Es gibt in der politischen Arena niemanden, der parteiübergreifend als Versöhner wirken und die diversen Akteure an einen Tisch bringen könnte.
Als Folge dieses alles durchdringenden Lagerdenkens ist eine kritische Beleuchtung der Leistungen oder Mängel der Sicherheitsbehörden unmöglich. Jedes Eingeständnis eines Fehlers würde als Niederlage gewertet und wird deshalb vermieden.
Nicht nur die Regierung ist verantwortlich für diese Entwicklung. Kurdenpolitiker müssen sich vorwerfen lassen, mit der kompromisslosen Verteufelung von Erdogan und anderen Spitzenpolitikern das gegenseitige Misstrauen weiter verstärkt zu haben. Insgesamt bietet das politische Ankara das Bild einer Hauptstadt, in der jeder den eigenen Vorteil sucht - was in einer Demokratie noch völlig in Ordnung wäre - und auf den jeweiligen Gegner eindrischt, ohne dass es einen Sinn für das Gemeinsame, das große Ganze, das Wohl des Landes insgesamt gibt - und das ist Gift für eine Demokratie.
Kein Wunder, dass viele Türken für die Zukunft schwarzsehen. Hoffnungen, dass die Wahlen in drei Wochen eine Lösung bringen werden, gibt es kaum. Angesichts der Reaktionen auf den Anschlag von Ankara wäre es auch unrealistisch, darauf zu setzen.
Unterdessen wirkt sich der Konflikt im benachbarten Syrien immer mehr auf die Türkei aus. Wenn es stimmt, dass der Islamische Staat (IS) hinter dem Anschlag von Ankara steckt, ist das ein Alarmzeichen. Experten gehen davon aus, dass der IS das türkische Staatsgebiet als Schlachtfeld für den Kampf gegen "Ungläubige" betrachtet. Zudem wollen die Dschihadisten demnach die Kurden schwächen, die ihnen im Norden Syriens so viele Schwierigkeiten bereiten. Die Türkei wird immer mehr in den Sog des Syrien-Krieges gezogen - doch die Politiker in Ankara sind mit sich selbst beschäftigt.