Kommentar Ukraine - Wahl im Krieg

Es waren keine Schicksalswahlen, auch wenn in der Ukraine Krieg herrscht. Es waren keine Skandalwahlen, obwohl es wieder Pfusch und Rempeleien gab. Es waren keine Sensationswahlen, auch wenn die Ergebnisse erheblich von den Meinungsumfragen vor dem Urnengang abwichen.

Wer hätte geglaubt, dass die "Volksfront" des Premiers Jazenjuk den hochfavorisieren Block des Präsidenten Poroschenkos an Stimmen noch ein- und gar überholt. Oder dass die "Selbsthilfe" des Lemberger Bürgermeisters Andrei Sadowi mehr als zehn Prozent gewinnt? Dass den Parteien, die europäische Zustände und Zugehörigkeit als innen- und außenpolitisches Ziel anstreben, nicht nur die absolute Mehrheit der Parlamentssitze gewinnen, sondern eine satte Zweidrittel-Mehrheit.

Und dass sogar ohne die Fraktionen der lautstark prowestlichen aber ebenso lautstark populistischen Charismatiker Julia Timoschenko und Oleg Ljaschko. Und ohne die stramm nationalistische "Freiheitspartei", die das Wahlvolk nicht über die Fünf-Prozent-Hürde hieven wollte. Die Ukrainer haben sehr europäisch gewählt.

Und wenn jetzt Moskauer Politologen von "totaler" Wahlfälschung durch die neonazistische Junta in Kiew reden, stellt sich die Frage, wieso der ultraradikale "Rechte Sektor" mit gut einem Prozent glatt durchgefallen ist. Warum die Wähler im ostukrainischen Frontgebiet wie immer mit großer Mehrheit für russlandfreundliche Kandidaten stimmten, ohne sich von den ukrainischen Kämpfern, die vor den Wahllokalen wachten, einschüchtern zu lassen. Und warum der russlandfreundliche "Oppositionsblock" mit 9,5 Prozent fast doppelt so viel Stimmen holte, wie ihm die letzten Umfragen vorhersagten.

Bei diesen ukrainischen Parlamentswahlen hatte auch die Opposition echte Chancen - im Gegensatz zu ähnlichen Veranstaltungen im großen russischen Nachbarland. Trotz zahlreicher taktischer Fouls von allen Seiten liegen die OSZE-Beobachter nicht falsch, die hinterher von Wahlen nach europäischen Standards sprachen. Trotz aller Überraschungen wirkten die Ergebnisse logisch und vorhersehbar: Die Ukrainer bestätigten in den Wahlkabinen, wofür sie im vergangenen Winter auf dem Maidan gekämpft haben: Wir wollen leben wie in Europa!

Sicher verändert ein Urnengang das Leben nicht. Und zur Logik der ukrainischen Politik gehört auch, dass die gewählten Abgeordneten massenhaft die Wünsche ihrer Wähler vergessen und im Parlament mit allen Tricks die Interessen der Großindustrie verteidigen. Es bleibt abzuwarten, wie wuchtig die Mannen Poroschenkos, selbst ein Milliardär, für jene Reformen stimmen werden, die den Korruptionsfilz beseitigen sollen.

Auch die auf lokale Selbstverwaltung setzende Graswurzelpartei "Selbsthilfe", vielleicht das demokratischste Projekt im Parlament, wird angeblich von dem Dnepropetrowsker Bankenfürst Igor Kolomoiski finanziert. Enttäuschungen über dieses Parlament sind programmiert, aber das gilt auch für europäische Abgeordnetenhäuser.

In der Ukraine haben europäische Wahlen stattgefunden. Allerdings in einer Ukraine, auf deren Boden Krieg geführt wird.

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