Kommentar Urteil im Ergenekon-Prozess - Bedingt positiv

Der Ergenekon-Prozess war ein Teil des Machtkampfes zwischen der neuen und der alten Elite in der Türkei. Kemalisten, Anhänger der nationalistisch-säkularistischen Ideologie von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk, bildeten eine Führungsschicht, die das Land über Jahrzehnte beherrschte - insbesondere mit Hilfe der Armee und der Justiz.

Seit dem Regierungsantritt der islamisch-konservativen Erdogan-Partei AKP vor elf Jahren werden die Kemalisten immer mehr von den Schalthebeln der Macht verdrängt. Da sie Erdogan nicht an der Wahlurne besiegen konnten, planten radikale Kräfte der Kemalisten laut dem heutigen Gerichtsurteil einen Putsch gegen Erdogan - ganz in der Tradition früherer Staatsstreiche.

War der Prozess also ein Beitrag zur Demokratisierung des Landes? Nur bedingt. Auf der Plusseite sagt das Urteil klar und deutlich, dass sich niemand über die gewählte Regierung stellen darf, auch nicht die Armee. Das war vor zehn Jahren in der Türkei noch undenkbar.

Doch der Ergenekon-Prozess war nicht über jeden Zweifel erhaben. Es gibt erhebliche und berechtigte Kritik an dem Prozess: lange Untersuchungshaftzeiten von teilweise mehr als fünf Jahren, Einschränkungen der Verteidigerrechte, Vorwürfe der Staatsanwaltschaft auf Grundlage von Aussagen anonymer Zeugen.

Kritiker werden deshalb auch nach den Urteilen überzeugt bleiben, dass der Prozess eine Hexenjagd der Regierung auf politische Gegner war - umso mehr, als die Reaktion der Staatsmacht auf die Proteste im Istanbuler Gezi-Park viele Türken in der Meinung bestärkt hat, dass der Raum für Kritiker Erdogans immer enger wird.

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