Kommentar USA - Grenz-Problem

Gebt mir eure Müden, eure Armen, eure geknechteten Massen, die sich danach sehnen, frei zu atmen". Die Worte der Dichterin Emma Lazarus, die auf einer Bronzetafel am Sockel der Freiheitsstatue in New York stehen, gehören zu den Gründungsmythen der Vereinigten Staaten.

Lady Liberty, aufgestellt 1886, wies seither Abermillionen Heimatlosen und Getriebenen den Weg in eine neue, bessere Zukunft. Heute ist der Geist, für den ihre lodernde Fackel steht, in Amerika weitgehend erloschen. In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit und wachsender Unsicherheit wird das Fremde und Neue den Nachkommen von Wirtschaftsflüchtlingen, Abenteurern und Verfolgten zur Bedrohung.

Vergessen scheint, dass die beeindruckendste Einwanderungsmaschine der Welt noch aus jedem Neuankömmling früher oder später arbeitsame Bürger und amerikanische Patrioten geformt hat. Schotten dicht, heißt dagegen heute die Maxime. Präziser: Bleibt zuhaus!

Genau diese Worte richtet Präsident Obama in dieser Woche stellvertretend an die Regierenden von Honduras, Guatemala und El Salvador. Seit knapp 70.000 Kinder und Jugendliche aus eben jenen korrupten, verrohten und kaputten Armenhäusern südlich des Rio Grande binnen weniger Monate die Grenzen zu Kalifornien, Texas und Arizona gestürmt haben, schnappt in den USA der Festungsgedanke über.

Republikaner treiben um den nächsten Wahltermin im Kongress im November fürchtende Demokraten in einem Überbietungswettbewerb vor sich her. Texas setzt die Nationalgarde ein, um Flüchtlinge abzuwehren.

Die bereits heute mit Mauern und Zäunen, elektronischen Detektoren, Reiterstaffeln, Luftüberwachung und 20 000 Beamten verrammelte Südgrenze soll mit Milliardenaufwand nahezu hermetisch abgedichtet werden.

Nur Brosamen, knapp 300 Millionen Dollar, bleiben übrig, um das schlimmste Elend an den Fluchtpunkten zu lindern. Experten sagen: Dableibprämien, die man sich sparen kann. Wo die Jugend nach Jahrzehnten der strukturellen Vernachlässigung mit den Füßen abstimmt und aus Selbsterhaltungstrieb gen Norden zieht, regiert eine Art weltliche Isis: Drogen-Kartelle, deren Mordlust und korrumpierende Reichweite in die Apparate von Regierung und Behörden keine Grenzen kennt und den Steinzeit-Islamisten im Irak in punkto Grausamkeit in nichts nachstehen.

Eine Misere, die ein fatales Licht auf Amerika wirft. Eine Supermacht, die nicht einmal im eigenen kulturell eng verbundenen Hinterhof mit Augenmaß und Ausdauer dafür sorgen kann, dass Staaten nicht scheitern und Menschen massenhaft das Weite suchen - wie will diese Supermacht in der Ukraine, in Syrien, im Irak oder im Gaza-Streifen nachhaltig für Stabilität sorgen?

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