Kommentar zur politischen Kultur in der Türkei Vertane Chance

Meinung | Istanbul · Der türkische Präsident Erdogan treibt die Polarisierung der türkischen Gesellschaft selbst in der Corona-Pandemie weiter voran. Es ist tragisch, dass er nicht über seinen Schatten springen kann, kommentiert unsere Autorin.

 Der türkische Präsident hat eine Chance vertan.

Der türkische Präsident hat eine Chance vertan.

Foto: dpa/Mustafa Kaya

Der türkische Präsident Erdogan treibt die Polarisierung der türkischen Gesellschaft selbst in der Corona-Pandemie weiter voran. Er bezeichnet regierungskritische Journalisten und Politiker als „Viren“, die noch gefährlicher seien als Corona. Inhaftierte Regierungsgegner sollen wie Mörder und Sexualstraftäter im Gefängnis bleiben, während Betrüger und Schläger freikommen, damit sie sich hinter Gittern nicht anstecken.

Die Erbarmungslosigkeit, mit der Erdogan mutmaßliche oder tatsächliche Gegner bekämpft, hat tiefe Wurzeln. Er ist geprägt von Erfahrungen der Polarisierung und der Diskriminierung. Als junger Mann erlebte er, wie fromme Muslime von den säkulären Eliten in Politik, Militär und Justiz von der Macht ferngehalten wurden. Bis heute hat für Erdogan die Einteilung in „Wir“ und „die Anderen“ zentrale Bedeutung. Er macht Politik für „seine Leute“.

Nicht nur Erdogan wird von der Vorstellung getrieben, Vergeltung für vergangenes Unrecht üben zu müssen. Das Thema prägt die gesamte politische Kultur des Landes. Säkuläre Politiker, Richter und Generäle versuchten jahrelang, Erdogan als Politiker fertigzumachen – sie verurteilten ihn sogar zu einer Haftstrafe, um ihn zu stoppen. Jetzt ist er am Drücker und dreht den Spieß um. Damit entsteht eine Spirale, die einen gesellschaftlichen Ausgleich verhindert. Die vielen Tausend Häftlinge, die jetzt von der Corona-Amnestie ausgeschlossen werden, weil sie unter allen Umständen hinter Gittern bleiben sollen, werden nicht vergessen, was ihnen angetan wird.

Gerade deshalb ist es für die Türkei in der Corona-Pandemie so tragisch, dass Erdogan nicht über seinen Schatten springen kann, sondern den oppositionsgeführten Großstädten wie Istanbul, Ankara oder Izmir den Bewegungsspielraum beschneiden will.

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