Kommentar Vorbild im Rücktritt

Alice Schwarzer kann wegen ihrer Steueraffäre nicht zurücktreten. Als was denn auch? Als Moralistin, als Ikone der Emanzipation? Sie hatte nur einen Ruf zu verlieren. Das ist jetzt passiert. Klaus Wowereit, bei dem man zögert zu sagen, er sei Regierender Bürgermeister von Berlin, aber könnte gehen.

Weil er die Steuerstraftat eines seiner Staatssekretäre gedeckt hat. Wie ein Rücktritt aussieht, hat gestern Helmut Linssen vorgemacht. Der CDU-Politiker gibt seinen Schatzmeisterjob wegen seiner zwielichtigen Finanzgeschäfte im Ausland auf. Strafrechtlich konnte man ihm nichts (mehr) vorhalten, moralisch jede Menge. Deshalb ist sein Rückzug sozusagen vorbildlich. Das Gute im Schlechten.

Denn niemand zahlt gerne Steuern. Doch die meisten tun es notgedrungen, manchmal auch im Bewusstsein ihrer gesellschaftlichen Verantwortung. Würden sich alle so verhalten wie die prominenten Steuersünder dieser Tage, wäre der Staat am Ende. Wer Steuern hinterzieht, ist ein Straftäter.

Aber das deutsche Strafrecht kennt hier eine Gnade, die ihresgleichen sucht: Wer sich selbst anzeigt, bleibt straffrei. Mehr noch: Er profitiert trotz seines Vergehens auch noch von den anderen Bestimmungen des Steuerrechts, beispielsweise der der Verjährung. So viel Güte richtet sich selbst: Sie gehört abgeschafft.

Es gibt ein einziges Argument für die Beibehaltung des Gnadenrechts im Steuerrecht: Es spült ordentlich Geld in die Kassen; Geld, das dem Staat sonst entginge. Das ist also ein durch und durch taktisches oder praktisches, jedenfalls kein moralisches Argument. Nirgendwo aber steht geschrieben, dass die Selbstanzeige für den Straftäter so günstig geregelt bleiben muss, wie es derzeit der Fall ist. Das Mindeste wäre also, die Regeln so zu verschärfen, dass es sich zwar für den Staat weiter lohnt (sich also genügend Steuerhinterzieher melden), dass es aber den Täter stärker trifft als heute.

Mit der reinen Lehre und der reinen Moral ist dem Thema ohnehin nicht beizukommen.Die Zahl der Selbstanzeigen wäre nie und nimmer so hochgeschnellt, wenn es nicht die Fälle der Prominenten gegeben hätte und diese nicht bekannt geworden wären. Diese Veröffentlichung, diese "Durchstecherei" ist - ebenfalls nach der reinen Lehre - für sich genommen ein Skandal. Das Steuergeheimnis müsste auch hier gelten. Aber spätestens mit dem Ankauf der Steuer-CD hat die Moral in diesem Punkt Schaden genommen.

Denn zur Hehlerei ist es hier nicht mehr weit. Ohne CDs weniger Selbstanzeigen, ohne Veröffentlichung prominenter Fälle noch weniger. Der Sündenfall ist also ein doppelter, und dennoch ist er geringer als der - auch moralische - Nutzen der ganzen Unternehmung. Steuergerechtigkeit aber bleibt angesichts findiger Berater und größerer Möglichkeiten derjenigen, die es sich leisten können, auch danach eine Fiktion.

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