Kommentar Wahl in Großbritannien: Überraschung durch Wirtschaftspolitik

London · Nein, erwartet hat dieses Ergebnis niemand – weder die Parteipolitiker jeglicher Coleur, die Wähler oder die sogenannten Experten. Und am allerwenigsten die Meinungsforscher.

Diese hatten monatelang eine derspannendsten Parlamentswahlen der Geschichte des Vereinigten Königreichsprophezeit, ein Kopf-an-Kopf-Rennen, an dessen Ende eine Patt-Situation wartenwürde. Die sozialdemokratische Labour-Partei hätte in diesem Szenario fastdieselbe Anzahl von Unterhaussitzen gewonnen wie die konservativen Tories. Doches kam alles anders.

Als gestern Abend um 22 Uhr Ortszeit die ersteHochrechnung über die Bildschirme lief, legte sich in der Zentrale von Labour einaschfahler Schatten auf die vom Wahlkampf erschöpften Gesichter, bei denLiberaldemokraten, dem bisherigen Koalitionspartner der Konservativen,herrschte pure Panik ob des katastrophalen Abschneidens und die Tores jubeltenvor grenzenloser Freude oder stießen zumindest bei einem Gläschen Champagneran.

So darf man sich das vorstellen, immerhin deuteten die Hochrechnungen schonan, was im Laufe des heutigen Tages Gewissheit werden wird. Der konservativeDavid Cameron kann künftig offenbar alleine regieren.

Die Tories haben vor allem von der Wirtschaftspolitik dervergangenen fünf Jahre profitiert. Als Cameron 2010 in die Downing Streeteinzog, kämpfte das Land mit den Folgen der Finanzkrise. Er zog Großbritannienaus der tiefen Rezession heraus, die Wirtschaft brummt, dieArbeitslosenzahlen sinken, genauso wie die Kriminalität.

Das Königreichverzeichne das schnellste Wachstum in Europa, war eines seiner schlagendstenArgumente. Und das zog bei den Briten. Den meisten geht es zu gut, als dass sieeine Veränderung wünschten oder das Bedürfnis verspürten, eine Alternative zubrauchen.

Die Menschen auf der Insel hatten Angst vor einer ungewissen Zukunftmit einer regierenden Labour-Partei, der immer wieder die wirtschaftlicheKompetenz abgesprochen wurde. Die Furcht übertrug sich auf den Wahlzettel.

Genauso wie jene über ein mögliches Bündnis der Sozialdemokraten mit derSchottischen Nationalpartei, die langfristig eine Unabhängigkeit anstrebt. DieSNP ist neben David Cameron die große Siegerin und wird den Konservativen inden nächsten fünf Jahren mit 56 Sitzen das Leben schwerer als bishermachen.

Seit Wochen wurde über alle möglichen Szenarien alles Möglichediskutiert. Und nun bleibt doch alles beim Alten. Fast. Eine Koalition mit denLiberaldemokraten brauchen die Konservativen offenbar nicht mehr einzugehen.Großbritannien rückt noch stärker in die konservative Ecke. Was das für Europabedeutet, wird sich zeigen.

Aber die Schwarzmalerei hätte etwas Farbe verdient.Auch wenn Cameron den Briten ein Referendum über die EU-Mitgliedschaftversprochen hat, gilt er gleichwohl als einer der europafreundlichstenPolitiker in den Reihen der Konservativen. Um die Unsicherheit undInstabilität, die die offene Frage um die EU erzeugt, schnellstmöglich ad actazu legen, dürfte der Volksentscheid bereits im nächsten Jahr angesetzt werden.

Dabei stehen in Zeiten des Wirtschaftsaufschwungs die Chancen für den Verbleibin der Union gut, ab heute wird sich wahrscheinlich auch die EU-freundlicheWirtschaftswelt in die Werbung für Brüssel einschalten.

Was die Wahl aber fürdie Mittel- und Arbeiterschicht bedeutet, die bislang kaum vomWirtschaftsaufschwung profitiert, ist die viel drängendere Frage. Die Kluftzwischen Arm und Reich dürfte weiter zunehmen.

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