Kommentar Was Gül kann

Istanbul · Nach der gewonnenen Wahl will Recep Tayyip Erdogan im politischen Alltag der Türkei nicht nur Präsident, sondern auch oberster Chef der Regierungspartei AKP und Über-Regierungschef in Personalunion sein.

Das ist schlecht für die Demokratie, in der wichtige rechtstaatliche Kontrollmechanismen fehlen. Gezügelt werden könnte Erdogan ausgerechnet von einem alten Weggenossen: dem bisherigen Staatschef Abdullah Gül.

Dieser kündigte die Rückkehr in die Partei- und Tagespolitik an. Ähnlich wie in Russland bei Wladimir Putin und Dmitri Medwedew könnten Präsident und Ministerpräsident also einen Ämtertausch vollziehen. Ob Erdogan einen so mächtigen und selbstbewussten Mann wie Gül als Regierungschef einsetzen will, ist aber ungewiss.

Anders als bei der russischen Rochade in Moskau ist Gül nicht von Erdogan abhängig. Er gehört selbst zu den Mitbegründern der AKP, er war deren erster Ministerpräsident und Präsident, er ist nach Erdogan der angesehenste Mann in der Partei. Wenn es jemanden gibt, der Erdogans Machtstreben etwas entgegenzusetzen hat, dann ist es Gül.

Eine solche Bremse wird möglicherweise auch nötig sein. Als neuer Präsident betont Erdogan zwar die Aufgabe, die gesamte Nation zu vertreten, nicht nur einen Teil. Seine Ankündigung in seiner Siegesrede, die Ära von Polarisierung und Anfeindungen zu beenden und eine "neue gesellschaftliche Verständigung" anzustreben, stößt bei Kritikern des bisherigen Premiers aber auf Skepsis. Schließlich war es Erdogan, der in den vergangenen Jahren hart gegen Andersdenkende vorging.

Mit seiner ausgleichenden Art könnte Gül dazu beitragen, diese Gräben ein wenig zuzuschütten. Anders als Erdogan zeigte er beispielsweise Verständnis für die Gezi-Bewegung und sagte sogar, er sei stolz auf den Protest der jungen Leute. Völlig reibungslos wäre eine Zusammenarbeit zwischen Gül und Erdogan wahrscheinlich nicht.

Das gilt auch für die Außenpolitik. Der scheidende Präsident ist einer der letzten überzeugten EU-Anhänger in Ankara. Anders als Erdogan, der die eigenständige Macht der Regionalmacht Türkei betont, streicht Gül stets die Bedeutung einer internationalen Einbindung des Landes heraus. Bisher galten EU-Befürworter wie Vizepremier Ali Babacan als Verlierer der neuen Ordnung unter Erdogan, EU-Skeptiker wie Wirtschaftsberater Yigit Bulut als Aufsteiger der "neuen Türkei". Ein Eintritt Güls in die Regierung könnte das ändern.

Auch die Kommunikation mit Europa würde mit Gül einfacher. Brüssel rief Erdogan vorsorglich zu einer "ausgleichenden Rolle" im neuen Amt auf. Bei Gül wäre ein solcher Appell überflüssig. Die Frage ist nur, ob Erdogan bereit ist, Gül zum Regierungschef zu machen.

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