Kommentar Wir waren nie Papst

Normalerweise gilt: Die Zeit rennt. Ein Jahr ist schneller vorbei als gedacht. Bei Papst Benedikt XVI., dessen Amtsverzicht sich heute jährt, verhält es sich genau andersherum: Das ist erst ein Jahr her? Die Umkehrung der Vorzeichen ist bezeichnend: Benedikts Nachfolger Franziskus hat die Kirche so umfassend, so heftig, so oft in Bann geschlagen, dass man es kaum glauben mag: Ja, das ist alles kein Jahr her!

Umgekehrt gilt das übrigens auch: Benedikt XVI. war acht Jahre Oberhaupt der 1,2 Milliarden Katholiken auf der Welt. Vielen kommt das viel kürzer vor. Warum? Weil er kaum Spuren hinterlassen hat! Auch da sind die Vorzeichen verkehrt: Normalerweise verklärt sich das Bild eines Politikers, eines Wirtschafts- oder eben auch Kirchenführers mit der Zeit.

Bei Benedikt ist auch das umgekehrt: Seine Amtszeit wird immer deutlicher kritisch gesehen. Überwogen direkt nach seiner Rücktrittsankündigung noch die wohlmeinenden Worte, die dem großen Theologen und Intellektuellen Hochachtung zollten, so lautet die heute weit überwiegende Meinung: Dieser Papst wird nicht in die Reihe der ganz großen Nachfolger Petri eingehen.

Dafür kann Benedikt zunächst einmal wenig. Die "Vatileaks"-Affäre, die ein herbes Schlaglicht auf die Zustände im Vatikan warf, hat er natürlich nicht zu verantworten. Ihm, der mehr als zwanzig Jahre Chef der mächtigen Glaubenskongregation in Rom war, fehlte aber - nicht erst am Ende seiner Amtszeit, sondern von Anfang an - die Kraft, den Machtapparat in Rom erstens als Problem zu erkennen und zweitens an der Reform der Kurie zu arbeiten.

Deshalb greifen auch all die Erklärungsversuche zu kurz, die Benedikts schwindende Kräfte als Grund für den Rücktritt ausmachen wollten. Ja, Benedikt war zu schwach, weil er wesentliche Problemkreise der katholischen Kirche nicht als solche erkannte. Auch die Welle der Missbrauchsfälle überspülte ihn eher, als dass es ihm gelungen wäre, sie zu beherrschen. Den Reformbedarf der Kirche wollte er nicht sehen. Gänzlich unmedial predigte er sogar die Entweltlichung der Kirche, ein Wort, das vielleicht missverstanden wurde. Energien setzte es jedenfalls nicht frei.

Übrigens auch nicht in der katholischen Kirche Deutschlands. Das "Wir sind Papst", das hier von seiner Amtszeit bleiben mag, war immer eine Fiktion, eine mediale Überhöhung. Die anfängliche Begeisterung, einen Landsmann auf dem Stuhl in Rom zu wissen, wich der Enttäuschung darüber, was dieser Papst aus Deutschland (nicht) tat. Folglich war das Aufatmen in der Kirche -einzelne konservative Bischöfe ausgenommen - bis in höchste Kirchenkreise unüberhörbar. Besonders deutlich ist es in der freudigen Begeisterung über die Worte seines Nachfolgers. Was auch ein Risiko birgt. Denn bisher sind auch ihnen Taten nicht gefolgt.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Nicht ohne Nachteil
Kommentar zur Wahlrechtsreform Nicht ohne Nachteil
Bekenntnis zur Truppe
Kommentar zum Veteranentag Bekenntnis zur Truppe
Wieder ein Endspiel?
Kommentar zur krieselnden Ampel-Koalition Wieder ein Endspiel?
Aus dem Ressort