Wirtschaftsentwicklung - Geteiltes Europa

Konjunkturboom in Deutschland, nackte wirtschaftliche Not in vielen anderen europäischen Ländern - mit beängstigender Geschwindigkeit driftet die Eurozone ökonomisch auseinander.

Die Ursachen sind vielfältig: Deutschland, ohnehin die größte Volkswirtschaft in Europa, fährt die Ernte aus den Anstrengungen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte ein. Eine schlagkräftige Verwaltung, Arbeitsmarkt- und Sozialreformen, Lohnzurückhaltung, solide Staatsfinanzen und globalisierte Unternehmen bis hinunter zum Mittelstand waren das Saatgut dafür. Jetzt nährt der Aufschwung den Aufschwung, Kapital und Fachkräfte strömen ins Land, weil hier die Erfolgsaussichten besser sind als anderswo in Europa.

Umgekehrt stecken viele andere Euroländer im Teufelskreis aus versäumten politischen und wirtschaftlichen Reformen und einem sich dadurch selbst verstärkenden Abschwung fest. Gerade weil Deutschland so stark ist, qualifizierte Menschen und Investitionen anzieht, tun sich diese Volkswirtschaften umso schwerer. Sie verlieren nicht nur die eigenen guten Leute. Wo wird sich heute ein Unternehmen aus Asien oder den USA mit seiner Europazentrale ansiedeln? In Griechenland? In Spanien oder Italien? Wohl kaum.

Selbst das einst solide Frankreich wackelt. Die Arbeitslosigkeit hat dort Ende Dezember mit 3,5 Millionen Menschen einen Rekordstand erreicht, die Quote liegt mehr als doppelt so hoch wie in Deutschland. Die EU-Kommission macht Druck, Frankreich, Italien und Belgien haben nur noch bis März Zeit, ihre Budgets in Ordnung zu bringen.

Das wachsende ökonomische Ungleichgewicht in Europa birgt politischen Sprengstoff. Das zeigt der Machtwechsel in Griechenland. Viele Bürger in den Schuldenstaaten haben das Gefühl, immer weiter verzichten zu müssen und sich kaum noch rühren zu können. Ist das nicht verständlich? Um bis zu 40 Prozent wurden Renten in Griechenland gekürzt. Zögen bei solchen Einschnitten nicht auch hierzulande viele Leute auf die Straße? Angela Merkel und Sparminister Wolfgang Schäuble werden nicht nur von Griechen als selbst ernannte Zuchtmeister der Eurozone geschmäht. Die Deutschen als die Besserwessis Europas? Das sollte zu denken geben.

Der Maastricht-Vertrag ist nicht in Stein gemeißelt. Ist es dem friedlichen Zusammenleben der verschiedenen Kulturen wirklich förderlich, alle Europäer den gleichen ökonomischen Verhaltensregeln zu unterwerfen? Sollte nicht gerade die Vielfalt der Lebensweisen und Mentalitäten in Europa erhalten bleiben? Laisser-faire, Dolce Vita und Siesta - sind das kulturelle Errungenschaften oder kann das weg? Und sind dann Hamsterräder made in Germany für alle die richtige Lösung? Europa fasziniert gerade wegen seiner verschiedenen Geschwindigkeiten. Auch darüber muss es eine Wertediskussion geben - nicht nur übers Geld.

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