Ein Jahr nach Parkland-Massaker Ärzte in den USA stellen sich gegen den Waffenwahn

Washington · 109 Amerikaner werden statistisch gesehen jeden Tag in ihrem Heimatland erschossen. Ein Jahr nachdem ein 19-Jähriger in einer Schule in Parkland 17 Menschen tötete, machen nun Ärzte gegen den Waffenwahn mobil.

 Dr. Joseph Sakran, Unfallchirurg in Baltimore, bei einer Anhörung vergangene Woche im US-Kongress.

Dr. Joseph Sakran, Unfallchirurg in Baltimore, bei einer Anhörung vergangene Woche im US-Kongress.

Foto: Herrmann

Es war der Abend nach einem Footballspiel zweier High-School-Mannschaften. Joseph Sakran stand draußen vor dem Sportplatz noch eine Weile herum mit seinen Freunden. Der Schuss, der dann fiel, galt nicht ihm. In der Nähe war es zu einem Streit gekommen, jemand zog seine Waffe und feuerte wild drauflos. Sakran wurde am Hals getroffen. „Die Kugel ging hier rein, schräg hier durch“, sagt er und tippt mit dem Zeigefinger auf seine Kehle, „und an der Schulter trat sie wieder aus“.

In einer Klinik in Fairfax im Vorortgürtel um Washington schoben Ärzte einen Tubus in die gerissene Luftröhre, damit er atmen konnte. Seine Halsschlagader war verletzt, die Stimmbänder hatten Schaden genommen. Der Operationstisch, das Neonlicht, die blauen Kittel: Es sei ihm vorgekommen, als sitze er im Kino, als ginge es ihn selber nichts an, als schaue er nur zu. „Eben war ich noch ein unbekümmerter Siebzehnjähriger, nun brauchte ich dieses Ding in der Luftröhre, damit ich überhaupt leben konnte.“

Demnächst feiert Sakran seinen 42. Geburtstag, doch seine Stimme klingt noch immer, als wäre sie permanent heiser. Woran sich wohl nichts mehr ändern wird. Vier Wochen, erzählt er, lag er damals im Krankenhausbett. Nach seiner Entlassung ließen ihn die Selbstzweifel nicht los. Einmal, sagt er, habe er lange in den Spiegel geschaut, im Hals steckte noch immer der Tubus. Offenbar wirkte er so mutlos, dass sein Vater glaubte, einschreiten zu müssen. „Du hast jetzt die Wahl“, zitiert er ihn. „Entweder betrachtest du deine Wunden und bemitleidest dich, oder du nutzt diese Chance, indem du etwas machst, was anderen Leuten hilft.“ Sakran beschloss, Medizin zu studieren. Heute ist er Unfallchirurg am Johns Hopkins Hospital in Baltimore.

Das mag nach einer Erfolgsstory klingen, nach dem amerikanischen Ideal, der Neuerfindung in einer persönlichen Krise. Nur ist Baltimore eben auch Synonym für den erbitterten Kampf skrupelloser Straßenbanden, auch wenn sich die Gewalt dort nur auf einige Viertel beschränkt. 271 Menschen kamen voriges Jahr in Baltimore, einer Stadt mit 600.000 Einwohnern, durch Schusswaffen ums Leben. Das Schlimmste an seinem Job, sagt Sakran, sei der Moment, in dem er in ein dafür vorgesehenes Zimmer gehen müsse, um den Angehörigen mitzuteilen, dass er leider nichts mehr tun konnte. „Die Leute ahnen schon, dass etwas nicht stimmt, wenn man sie in diesen Raum bittet.“ Manchmal wechselt er vorher den OP-Kittel, weil er nicht in einem blutgetränkten vor die Eltern, Geschwister, Kinder von soeben Verstorbenen treten will.

Ärzte sind Chronisten des Waffenwahns

Ärzte wie Sakran sind, wenn man so will, die genauesten Chronisten des Waffenwahns. An jedem Tag werden, statistisch gesehen, 109 Amerikaner erschossen, das sind fast 40.000 im Jahr. Nach einem Mass-Shooting – nach dem Blutbad in einem Kino, bei einem Konzert, in einem Gotteshaus oder an einer Schule, wie vor zwölf Monaten an der Stoneman Douglas High School in Parkland in Florida – berichten die Medien. Von weniger spektakulären Fällen nehmen sie dagegen oft nicht einmal Notiz. Über die Hälfte aller Schusswaffentoten verübten Selbstmord, auch das gehe weitgehend unter in der Debatte, sagt Sakran. Er hoffe, dass man irgendwann beginne, ein Gespräch unter Erwachsenen zu führen. Dass auch die tägliche Routine zum Thema werde, nicht nur das Massaker eines Massenmörders. Die amerikanische Ärzteschaft jedenfalls ist nach jahrelanger Passivität in die Offensive gegangen, um sich aktiv einzumischen in die Waffendebatte. Es hat mit Sakran zu tun. Und einem Tweet.

Es begann im November, nachdem die Ärzte-Vereinigung American College of Physicians strengere Gesetze angemahnt hatte. Die National Rifle Association (NRA), die amerikanische Waffenlobby, gab ihr daraufhin den Rat, sich auf Dinge zu beschränken, von denen Mediziner etwas verstünden. Sakran entgegnete: „Wir kümmern uns tagtäglich um diese Patienten. Wo sind Sie, wenn ich all diesen Familien sagen muss, dass einer ihrer Nächsten gestorben ist?“

Andere haben drastischere Worte gewählt. „Habt ihr irgendeine Ahnung davon, wie viele Kugeln ich jede Woche aus Leichen hole?“, fragte die Pathologin Dr. Judy Melinek. Er könne kein Patientenfoto veröffentlichen, also belasse er es bei einem Selfie, schrieb ein Chirurg aus Utah und veröffentlichte ein Bild, das ihn in einem Kittel voller Blut zeigt.

Der Kapitolshügel in Washington, Rayburn Building, Saal 2141. Sakran ist als Zeuge vor den Justizausschuss des Repräsentantenhauses geladen. Zwei Plätze neben ihm sitzt Art Acevedo, der Polizeichef von Houston, der vor Monaten, nach einem Amoklauf an einer High School im Umland der texanischen Ölmetropole, kein Blatt mehr vor den Mund nahm. Es sei an der Zeit, „Gott um Verzeihung für unsere Untätigkeit zu bitten“, wetterte er. Es ist, so betont es der Vorsitzende des Ausschusses, der New Yorker Demokrat Jerrold Nadler, seit acht Jahren die erste parlamentarische Anhörung zum Thema Schusswaffengewalt.

Initiative gegen das Verbluten der Opfer

Hinterher schildert Sakran, was ihm vor 25 Jahren nach dem Footballmatch in Fairfax widerfuhr. Und was zu tun ist, wenn Sanitäter einen Verletzten in seine Notaufnahme rollen. In Stichpunkten: Wie viele Einschusslöcher gibt es? Wie viele Austrittswunden? Stimmt die Zahl überein? Wenn nicht, stecken noch Kugeln im Körper. Ist der Blutdruck stabil? Oder sinkt er gefährlich? Droht der Tod durch Verbluten? Manchmal müsse er zum letzten Mittel greifen, zur Thorakotomie: Der Brustkorb wird aufgeschnitten und auseinandergefaltet, damit ein Herz, das nicht mehr schlägt, mit der Hand massiert werden kann. Nur in einem von zehn Fällen hat die Methode Erfolg.

Dr. Raquel Forsythe kommt ohne Umschweife zur Sache. Fragt man sie nach „Stop the Bleed“, einer Kampagne, für die sie die Trommel rührt, ruft sie als Erstes den Schock von Sandy Hook in Erinnerung. Wohl jeder Amerikaner weiß auf Anhieb, was damit gemeint ist. Dezember 2012, ein Massenmord an der Sandy-Hook-Grundschule in Newtown, einer postkartenschönen Kleinstadt in Connecticut. Von den Erstklässlern, auf die der chronisch depressive Schütze Adam Lanza angelegt hatte, wurde niemand in ein Krankenhaus eingeliefert. In der nächstgelegenen Klinik wartete sie, alarmiert durch die Schreckensnachricht, vergebens auf verletzte Sechs- oder Siebenjährige. „Keiner hat es überlebt, sie sind alle verblutet.“

In der Folge riefen Mediziner die Initiative „Stop the Bleed“ ins Leben – Stoppt die Blutung. „Die Opfer“, sagt Forsythe, „sollen es wenigstens bis zur Rettungsstelle schaffen“. Nur weiß sie auch, dass Attentäter, wenn sie ihren mörderischen Feldzug planen, in aller Regel zu einer AR-15 greifen, so wie Lanza. Die Munition eines Schnellfeuergewehrs richtet einen Schaden an, der auch Chirurgen oft vor unlösbare Aufgaben stellt. Nach den Worten von Peter Rhees, eines Chirurgen in Arizona, lässt die gerade Schneise einer Pistolenkugel an einen Messerstich denken, die eines AR-15-Geschosses an eine Handgranate.

Nach Sandy Hook, sagt Forsythe noch, habe sie geglaubt, der Kongress werde endlich strengere Waffengesetze beschließen. Aber selbst nach diesem Weckruf gelang es den Bremsern der NRA mit ihren engmaschigen Kontaktnetzwerken, das Parlament praktisch lahmzulegen. Was nun der Ärzteprotest ändern soll an festgefahrenen Fronten? „Wir verlangen nichts Radikales“, antwortet die Notärztin aus Pittsburgh. Ungefähr jeder zweite ihrer Kollegen besitze ja selber eine Waffe. Den Verfassungsartikel zu kippen, der ein Recht auf privaten Waffenbesitz garantiere, das sei gewiss nicht das Ziel, wenn sich Chirurgen nun einschalteten in den Diskurs. Was man allerdings fordere, seien vernünftigere Regeln, um Exzessen zu begegnen.

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