Ulrich Raulff neues Buch Als das Pferd aus der Geschichte fiel

BONN · In seinem neuen Buch "Das letzte Jahrhundert der Pferde" ergründet Ulrich Raulff äußerst klug und lehrreich die Geschichte eines Abschieds – der Trennung von Mensch und Pferd. Heute entscheidet sich, ob er dafür den Preis der Leipziger Buchmesse erhält.

Es ist einsam geworden um die Pferde: In der technisierten Welt von heute kommen sie nur noch am Rande vor.

Es ist einsam geworden um die Pferde: In der technisierten Welt von heute kommen sie nur noch am Rande vor.

Foto: picture alliance / dpa

Es ist gerade 200 Jahre her, da waren die westlichen Großstädte von Pferden voll; Peitschenknallen, Wagenräder und Hufeisen auf Kopfsteinpflaster war ihr beherrschender Sound. In Paris lebten und arbeiteten Ende des 19. Jahrhunderts 80 000 Pferde, in London waren es 300 000. Heute ist das kaum mehr vorstellbar.

Über 6000 Jahre hinweg war das Pferd enger Partner des Menschen, war unverzichtbar in der Landwirtschaft, verband Städte und Länder, entschied Kriege, war Symbol für Herrschaft und Macht – bis der menschliche Teil diesen „kentaurischen Pakt“ auflöste und sein vierbeiniger Gefährte aus der Geschichte fiel. In seinem Buch „Das letzte Jahrhundert der Pferde“ ergründet Ulrich Raulff die Geschichte dieser Trennung.

Der Kulturwissenschaftler, Autor und Direktor des Deutschen Literaturarchivs Marbach, der bereits 2010 für sein vielbeachtetes Buch „Kreis ohne Meister“ zum Nachwirken des Lyrikers Stefan George den Preis der Leipziger Buchmesse gewann und nun wieder nominiert ist, wendet sich darin dem „langen 19. Jahrhundert“ zu, jenem viel beschriebenen Weg in die Moderne, der mit der Französischen Revolution begann und mit dem Ersten Weltkrieg endete. Im Mittelpunkt stehen dabei nicht die üblichen Verdächtigen von Napoleon und Metternich bis Bismarck, sondern der geheime Held dieses Jahrhunderts – das Pferd.

Die Geschichte der Trennung ist insofern besonders interessant, weil der einseitig geschlossene, einseitig aufgekündigte Pakt mit einem Höhepunkt endet. Die fortschreitende Industrialisierung, der wachsende Verkehr, die zunehmende Mechanisierung der Arbeits- und Lebenswelt der Menschen ließ den Bedarf an Energie sprunghaft ansteigen – Energie, die noch mehr als ein Jahrhundert lang zum Großteil von Zugpferden erbracht wurde, bevor den relativ leichten und kleinen Verbrennungsmotoren von Otto und Diesel der Sprung auf die Straße gelang und das Pferd unter die Räder kam.

Pferde waren also genauso Grundlage des Fortschritts, wie sie dessen Opfer wurden – und das im doppelten Sinn. Denn nicht nur, dass das Pferd im Zuge der Modernisierung schließlich seine Bedeutung einbüßen musste, ab der Mitte des 20. Jahrhunderts zahlenmäßig arg reduziert in die Gefilde der Reiterhöfe und Mädchenträume, des Hobbys zurückgedrängt wurde – es hatte auch schwer an diesem Prozess zu tragen.

Pferde wurden gebraucht – und verbraucht

In der Großstadt des 19. Jahrhunderts durchlebten die friedliebenden Fluchttiere als Omnibus- und Tram-Pferde eine „Pferdehölle“, als wendige Waffe auf den Schlachtfeldern starben sie elende Tode, als Renn- und Kutschpferde wurden sie gepeitscht und getrieben. Acht Millionen der nach heutigen Schätzungen im Ersten Weltkrieg eingesetzten 16 Millionen Pferde kamen ums Leben. Pferde wurden nicht nur gebraucht, sie wurde auch verbraucht.

Ulrich Raulff wendet sich in seinem Buch längst nicht nur dieser realhistorischen Erzählung zu. Zahllose Geschichten ließen sich erzählen, in denen das Pferd eine Hauptrolle spielt, sagt der Autor: Technikgeschichte, Verkehrsgeschichte, Agrar-, Kriegs- und Stadtgeschichte, Energiegeschichte, aber auch Wissens- und Symbolgeschichte, Kunst-, Ideen- und Begriffsgeschichte.

Es ist eine der Stärken des Buches, dass Raulff sich nicht auf eine dieser Perspektiven beschränkt. „Das letzte Jahrhundert der Pferde“ überzeugt nicht so sehr durch die Trennschärfe der Begriffe oder die strenge Ordnung des Aufbaus, sondern durch eine unermessliche Fülle an Wissen und Wissenswertem.

Der Autor selbst will sein Buch eher als Essay denn als geschichtswissenschaftliche Abhandlung verstanden wissen. Es ist ein anregender Ritt durch die mannigfaltigen Gefilde des kentaurischen Pakts und dessen Auflösung. Dabei hat Raulff neben den großen historischen Zusammenhängen auch die spannenden Details am Wegesrand im Blick, springt behände von autobiografischer Erinnerung zu geschichtsphilosophischer Betrachtung, von Anatomie zu Anekdote, von Kavallerie zu Literatur und Kunst, die sich auch durch Reproduktion zahlreicher Gemälde im Buch wiederfindet.

Ob Raulff zur Geschichte des Steigbügels referiert, die Rolle des Pferdes in Kafkas „Ein Landarzt“ und Tolstois „Anna Karenina“ deutet oder berichtet, dass es erst die spanischen Eroberer waren, die die Indianer der Great Plains um 1700 auf die Pferde brachten – auf jeder Seite fällt für den Leser etwas Verblüffendes und Lehrreiches ab.

Ganze Bibliotheken zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts schweigen sich weitestgehend über das Pferd aus. Es ist Raulffs Verdienst, dass, wer sein Buch liest, einen Teil der Weltgeschichte mit anderen Augen sieht und den Beitrag zu würdigen weiß, den das Pferd als gezwungener und geschundener Geburtshelfer der Moderne zu erbringen hatte. Mit „Das letzte Jahrhundert der Pferde“ ist ihm ein überraschendes, unterhaltsames und zugleich unendlich lehrreiches Buch gelungen.

Ulrich Raulff: Das letzte Jahrhundert der Pferde. C.H. Beck, 461 S., 29,95 Euro

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