Auf dem Kopf landen oder ertrinken

Tomi Ungerer, der am Dienstag 75 wird, sagt: "Mein Nachlass ist enorm - Im Mai hat mein Lektor fünf Weinkisten voller Manuskripte mitgenommen - Wenn ich morgen krepiere, ist noch Stoff da für 20 bis 30 Bücher"

  Tomi Ungerer:  "Ich schreibe, was ich zeichne, und zeichne, was ich schreibe."

Tomi Ungerer: "Ich schreibe, was ich zeichne, und zeichne, was ich schreibe."

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Bonn. Er ist einer der berühmtesten Zeichner und Kinderbuchautoren der Gegenwart. Am Dienstag wird Tomi Ungerer 75.

General Anzeiger: Mit 70 Jahren haben Sie sich in einer Rede auf Erich Kästner als einen Typ dargestellt, der auf einem Sprungbrett steht, nicht weiß, ob der Pool leer oder voll ist und dann sagt: "Egal. Weiter springen. Auf dem Kopf landen oder ertrinken. Ich habe genug Freunde, die mich retten werden". Was sagen Sie heute, fünf Jahre später, vorausgesetzt, Sie kletterten noch einmal auf den Sprungturm?

Tomi Ungerer: Genau dasselbe. Das Wichtigste in meinem Leben sind Freundschaften. Ich war vier Jahre lang schwer krank und lag alleine in Straßburg. Bei meiner Familie in Irland konnte ich nicht behandelt werden - das nächste Hospital war anderthalb Stunden entfernt. Alle meine Freunde haben sich um mich gekümmert. Das ist die schönste Osmose der Welt.

GA: Sie werden am 28. November 75 Jahre alt. Klettern Sie noch mal hinauf, oder schiebt sich langsam die Bedächtigkeit des Alters vor die Lust am Risiko?

Ungerer: Mein 75. Geburtstag, na gut. Viel wichtiger ist der Blick nach vorne. Nächstes Jahr öffnet in Straßburg das "Ungerer-Museum". Es wird finanziert von der Stadt, aber auch vom französischen Staat. Es ist das erste Mal, dass der französische Staat ein Museum einem Künstler widmet, der noch lebt.

Vor 30 Jahren habe ich noch Todesdrohbriefe von französischen Patrioten bekommen, weil ich mich für die deutsch-französische Freundschaft eingesetzt habe. Jetzt bin ich anerkannt.

GA: Ihre Liebe zum Meer strömt dem Leser aus "Heute hier, morgen fort" entgegen, dem Buch über Ihre Jahre an der kanadischen Küste.

Ungerer: Ich habe für mich selbst eine Art von Autobiografie erfunden. Nummer eins war das Buch über meinen Vater, den Uhrmacher aus dem Elsass. Dann folgt die "Gedanken sind frei" über meine Nazikindheit. Dann "Heute hier, morgen fort". Jetzt schreibe ich noch meine Wanderjahre, mein Amerikabuch und mein Irlandbuch. Über die 30 Jahre in Irland habe ich alles aufgeschrieben, habe es aber nie herausgebracht.

GA: Warum?

Ungerer: Diese Iren bei mir zu Hause in diesem "back of beyond" sind sehr privat. Als ich dorthin kam, ließen sie sich nicht mal fotografieren oder zeichnen. Es wäre eine Art Verrat gewesen, alles zu erzählen, was da bei uns in den 30 Jahren passiert ist. Deswegen werde ich das Buch nicht in Englisch herausbringen.

Es gibt zwar schon das "Irische Tagebuch" von Heinrich Böll, aber bei mir ist es etwas ganz, ganz anderes. Wir gehen dort in die Kirche. Ich bin dort Farmer mit 600 Schafen und 48 Kühen. Da hat man einen ganz anderen Kontakt zu den Menschen.

GA: Ist aus dem Elsässer ein Ire geworden?

Ungerer: Niemals. Aber das schönste Kompliment je in meinen Leben hat mir Marie aus unserem kleinen Kolonialwarengeschäft im Dorf gemacht. Wir kamen von einem Urlaub zurück. Das Haus hatte mein lieber, leider unlängst verstorbener Freund und Schriftsteller Brian Moore gehütet. Auf meine Frage, wie es denn so mit Brian gelaufen sei, antwortete Marie: "He is an Irisman, but you are one of us."

GA: Was bedeutet Ihnen noch das Elsass?

Ungerer: Unendlich viel. Wir Elsässer lebten im Osten von Frankreich und im Westen von Deutschland. Jetzt sind wir in der Mitte von Europa. Das ist doch fantastisch. Das Elsass hat von sich aus immer beide Kulturen integriert, in der Sprache und in der Tradition.

GA: Was treibt Sie künstlerisch immer noch an?

Ungerer: Ich schreibe, was ich zeichne, und zeichne, was ich schreibe. Ich genieße den Luxus, in vier Sprachen zu schreiben, in Englisch, Deutsch, Französisch und Elsässisch. Mein Nachlass ist enorm. Im Mai hat mein Lektor vom Diogenes-Verlag in Zürich fünf Weinkisten voller Manuskripte mitgenommen. Wenn ich morgen krepiere, ist noch Stoff da für 20 bis 30 Bücher.

GA: Zum Jahresbeginn konnten Sie nicht sicher sein, Ihr Augenlicht zu behalten.

Ungerer: Darüber habe ich nachgedacht und kam zu einem kreativen Ergebnis: Wenn ich blind würde, blieben mir immer noch das Kneten und die Selbstbefriedigung.

GA: Haben Sie Angst vor dem Tod?

Ungerer: Ich habe kein Problem mit dem Tod. Ich war schon dreimal tot . . .

GA: Sie lagen dreimal im Koma . . .

Ungerer: Ja , es war so fantastisch. Kein Ängstlichkeit, keine Verantwortung mehr. Das Licht, dieser Frieden. Man entwickelt fast eine Sehnsucht nach dem Tod.

Zur PersonJean Thomas Ungerer, genannt Tomi, wird in Straßburg am 28. November 1931 als vierter und jüngster Sohn des Ehepaares Ungerer geboren. Der Vater Théodore ist gemäß der Familientradition Uhrenmacher, er betätigt sich darüber hinaus aber auch als Künstler und Historiker.

In den fünfziger Jahren arbeitet Ungerer als Schaufensterdekorateur und Werbezeichner. Ungerers erstes Kinderbuch, "The Mellops Go Flying", erscheint 1957 im amerikanischen Verlag Harper & Row. Für Maschinen von Burroughs gestaltet Ungerer seine erste Werbekampagne und zeichnet zugleich für die Zeitschriften "Esquire", "Life", "Holiday", "Harper's Magazine" und für die "New York Times".

In München lernt Ungerer Daniel Keel kennen, dessen Züricher Verlag Diogenes die Mehrzahl von Ungerers Büchern publizieren wird. 1958 bis 1962 vervollständigt Ungerer seine Serie der "Mellops" und veröffentlicht eine Reihe weiterer Kinderbücher. Im "Liederlichen Liederbuch" veröffentlicht der Künstler 1994 erotische Zeichnungen. 2001 wird das Centre Tomi Ungerer in Straßburg eröffnet.

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