Weltkindertag "Deutschland ist weitgehend kindentwöhnt"

Zum Weltkindertag zieht Heinz Hilgers, Präsident des Kinderschutzbundes, eine kritische Bilanz: Staatliche Leistungen helfen vor allem Gutverdienern, die sie eigentlich nicht brauchen. Im Bildungssystem mangelt es an Chancen für Schüler aus Problemfamilien, und selbst Kinderlachen ist mancherorts unerwünscht.

 Kinder toben auf einem Spielplatz: Dass es dabei nicht eben leise zugeht, kann für Ärger sorgen.

Kinder toben auf einem Spielplatz: Dass es dabei nicht eben leise zugeht, kann für Ärger sorgen.

Foto: Frank Homann

Die Geburtenrate sinkt, Nachbarschaftsklagen gegen Lärm aus Kindergärten oder von Spielplätzen gehören zum Alltag. Wie kinderfreundlich sind die Deutschen?

Heinz Hilgers: Deutschland ist weitgehend kindentwöhnt. Es ist nicht mehr selbstverständlich, dass in allen Stadtteilen Kinder aller Altersstufen am Leben teilnehmen. Vor allem in Innenstädten gibt es ganze Bereiche, in denen keine Kinder leben. Das führt dazu, dass die Gesellschaft mit Kindern und ihrer manchmal lauten Lebensfreude zum Teil nicht mehr umgehen kann. Es ist traurig zu beobachten, dass Menschen Autolärm klaglos hinnehmen, aber sich von Kinderlachen auf dem Spielplatz gestört fühlen. Das ist zwar eine Minderheit, aber sie versucht sich durchzusetzen.

Es mangelt offenbar nicht nur an Verständnis, sondern auch an Geld. 14 Prozent der Kinder in Deutschland leben laut Unicef in relativer Armut. Was läuft schief?

Hilgers: Die finanzielle Lage der Kinder in Deutschland wird seit Jahren schlechter. Immer wenn die Wirtschaft gut läuft und die Arbeitslosigkeit sinkt, geht die Kinderarmut nur ganz langsam zurück. Bei steigender Arbeitslosigkeit nimmt die Kinderarmut dagegen gleich um das zwei- oder dreifache zu. Das weist auf strukturelle Probleme hin.

Was sind die größten Versäumnisse?

Hilgers: Zum einen stimmt der Familienlastenausgleich in unserem Land nicht. Mit jedem zusätzlichen Kind sinkt das frei verfügbare Einkommen einer Familie. Hinzu kommt, dass die Zahl der Alleinerziehenden steigt. Sie haben es besonders schwer, etwa Familie und Beruf zu vereinbaren. Die meisten Kinder an der Armutsgrenze leben mit nur einem Elternteil.

Wie kann die Situation der Kinder verbessert werden?

Hilgers: Wir fordern eine Kindergrundsicherung. Dieser Festbetrag würde die öffentlichen Kassen kaum zusätzlich belasten. Es gibt bei uns eine Fülle von staatlichen Leistungen für Familien, die aber unübersichtlich sind und zum Teil in ihrer Wirkung zweifelhaft.

Wer profitiert heute von den Familienhilfen des Staates?

Hilgers: Deutschland gibt den Familien mit höheren Einkommen sehr viel mehr Geld für ihre Kinder als den armen. Zum Beispiel können Spitzenverdiener bis zu 500 Euro im Monat über die verschiedenen Freibeträge für Kinder erhalten. Hilfeempfängern wird dagegen das Kindergeld gestrichen. Das gibt es in keinem anderen Industriestaat. Dort werden zuerst die Bedürftigen unterstützt.

Oft wird befürchtet, bedürftige Eltern könnten zusätzliche Finanzspritzen für sich und nicht für ihre Kinder einsetzen.

Hilgers: Man kann den Eltern vertrauen. Alle Untersuchungen beweisen, dass die meisten Armen sich das Geld vom Mund absparen, damit es ihren Kindern besser geht.

Ist das bei den jetzigen Hartz-IV-Beträgen notwendig?

Hilgers: Die Sätze gehen zum Teil völlig an der Realität vorbei. Für die Hygiene eines Babys erhalten Hartz-IV-Empfänger beispielsweise gerade einmal sechs Euro im Monat. Das reicht nicht einmal für ein Paket Windeln. Es geht aber nicht nur um Direktzahlungen. Ein kostenloses Mittagessen für alle Kinder in Schulen und Kindergärten würde dem Staat sehr viel bürokratischen Aufwand ersparen und vielen Familien helfen.

Derzeit geraten viele Kommunen in Torschlusspanik, um die Kita-Plätze für Unter-Dreijährige zu schaffen, die den Eltern ab August 2013 zustehen. Was sind die Folgen?

Hilgers: Wir brauchen dringend eine Qualitätsoffensive in unseren Kindertagesstätten und nicht nur ausreichend Plätze. Im internationalen Vergleich haben unsere Kindertagesstätten Nachholbedarf. Sollten in unseren Kitas bald zahlreiche ungelernte Kräfte beschäftigt werden und die Gruppengrößen steigen, dann halte ich das für Kindesvernachlässigung durch den Staat.

Das von der Regierung geplante Betreuungsgeld könnte Eltern davon abhalten, ihre Kinder in Tagesstätten zu bringen. Ist das eine Alternative?

Hilgers: Das Betreuungsgeld kann in vielen Einzelfällen kontraproduktiv wirken. Ein früher Besuch einer Kita kann auch eine frühe Hilfe für die Familie ein. Dazu kommt: Das Betreuungsgeld sollen auch Eltern erhalten, die ihr Kind von Personen betreuen lassen, die nicht durch die Jungendämter vermittelt werden. Damit bremst es die speziell ausgebildeten und überwachten Tagespflegeeltern zugunsten von irgendwelchen Notlösungen aus. Das ist kontraproduktiv zum Kinderschutz.

Wie beurteilen Sie die Bildungschancen von Kindern in Deutschland?

Hilgers: Um die allermeisten Kinder kümmern sich die Eltern liebevoll. Die schaffen es dann sogar durch das deutsche Bildungssystem. Wer allerdings wenig von zu Hause mitbekommt, hat schlechtere Chancen. Das kann sich Deutschland nicht leisten.

Was muss sich ändern?

Hilgers: Damit alle Kinder eine faire Chance haben, müssen vor allem Schulen in Problem-Stadtteilen anders ausgestattet werden. Sie brauchen mehr Lehrer, um auch in Kleingruppen unterrichten zu können oder einzelne Kinder zu fördern. Außerdem brauchen sie sozialpädagogische Unterstützung.

Welche Rolle spielen die Eltern?

Hilgers: Eltern und Lehrer sind Erziehungspartner. Und es wird Zeit, dass diese Partnerschaft wieder besser gepflegt wird. Aber der steigende Druck in der Arbeitswelt nimmt vielen Eltern Zeit für ihre Kinder. Gerade Beschäftigte im Billiglohnsektor und in der Schichtarbeit können weniger Zeit mit ihren Kindern verbringen.

Zur Person

Heinz Hilgers aus Dormagen ist ehrenamtlicher Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes. Der 64-jährige war als SPD-Politiker mehrere Jahre Mitglied des NRW-Landtages und Bürgermeister seiner Heimatstadt. In Frechen arbeitete der verheiratete Vater von drei Söhnen als Leiter des örtlichen Jugendamtes.

Die Zahlen

In Deutschland lebten 2010 nach Angaben des Statistischen Bundesamtes rund 13 Millionen Kinder und Jugendliche. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung lag mit 16,5 Prozent 2,3 Prozentpunkte niedriger als 2000. Für das Jahr 2060 wird der Anteil auf 14 Prozent geschätzt.

  • 83 Prozent der Kinder leben gemeinsam mit beiden Eltern.
  • Durchschnittlich jedes vierte Kind in Deutschland ist ein Einzelkind.
  • In etwas mehr als der Hälfte der Familien mit Kindern arbeiten beide Elternteile.
  • Das Durchschnittseinkommen von alleinerziehenden Frauen mit Kindern liegt 40 Prozent unter dem allgemeinen Durchschnittseinkommen.
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