Dieter Sturma: " Zunächst müssen wir klären, was "normale" Persönlichkeit überhaupt ist!"
Der Bonner Philosoph Professor zur Demenzforschung und zur Neuroethik
Der Bonner Philosoph Dieter Sturma ist seit Jahresbeginn am Forschungszentrum Jülich Direktor des Instituts "Ethik in den Neurowissenschaften". Darüber hinaus hat er eine Professur an der Universität Bonn inne und leitet dort zwei Ethikinstitute.
Wegen der rasanten Entwicklung der Hirnforschung gewinnt die ethische Dimension zu den Neurowissenschaften zunehmend an Bedeutung. Mit dem Wissenschaftler sprach Johannes Seiler.
General-Anzeiger: Über zu wenig Arbeit können Sie vermutlich nicht klagen. Warum engagieren Sie sich jetzt auch noch in Jülich?
Dieter Sturma: Es ist eine einmalige Chance, als Philosoph am Puls der Forschung mit Neurobiologen und Biophysikern zusammenarbeiten zu können. Meine Tätigkeit in Jülich ergänzt sich hervorragend mit meinen bioethischen Forschungen in Bonn.
GA: Das Forschungszentrum Jülich ist auch am geplanten Demenzforschungszentrum (DZNE) beteiligt, dessen Hauptsitz nach Bonn kommt. Inwieweit erwarten Sie dadurch einen weiteren Auftrieb für die Neuroethik?
Sturma: Die Ethik in den Neurowissenschaften wird dadurch definitiv einen Aufschwung erfahren. Die Bonner Ethik-Institute wollen sich am DZNE beteiligen. Jetzt besteht die Möglichkeit, den neuroethischen Ansatz noch wesentlich breiter anzulegen.
Jülich ist beispielsweise mit seinen bildgebenden Verfahren hervorragend in der Grundlagenforschung ausgestattet. Das DZNE wird intensiv mit dem Bonner Universitätsklinikum zusammenarbeiten, dadurch werden sich patientennahe Fragestellungen ergeben.
GA: Welche ethischen Fragestellungen sind mit der Erforschung von Demenzerkrankungen verbunden?
Sturma: Von Demenzerkrankungen ist bekannt, dass sie zu Persönlichkeitsveränderungen führen. Um dies genauer zu untersuchen, müssen wir zunächst einmal klären, was "normale" Persönlichkeit überhaupt ist.
Eine Arbeitsgruppe in Jülich erforscht, wie die neuronalen Strukturen bei Gesunden aussehen. Dazu wird die Neuroethik einen Beitrag leisten. Wir müssen nämlich für die Zukunft einen viel konkreteren Begriff der Person entwickeln.
GA: Welchen Beitrag muss die Neuroethik noch leisten?
Sturma: Eine ganz praktische Frage ist etwa, wie man damit umgeht, dass ein demenziell Erkrankter zustimmend an einer Studie teilnimmt, aber im Verlauf der Studie seine Zustimmungsfähigkeit verliert. Kann er vorab für diesen Fall seine Zustimmung erteilen?
GA: Welche ethischen Fragestellungen gibt es zu den Demenzkranken selbst?
Sturma: Wir haben bislang auch zu wenig erforscht, was eine Demenzerkrankung für die Betroffenen bedeutet. Die Patienten verlieren immer mehr die Brücken zu den Episoden ihres Lebens.
Doch wie gravierend wird das von den Patienten erlebt? Wie gehen die Angehörigen damit um? Wie wird die zunehmende Zahl von Demenzkranken in Zukunft ethisch vertretbar versorgt werden?
Ein weiteres Problem besteht darin, dass die Diagnostik in der Gehirnforschung große Fortschritte macht, aber für viele in der Frühdiagnostik entdeckten Erkrankungsrisiken noch keine Therapien absehbar sind. Was sagen wir in solchen Fällen den Betroffenen?
GA: Für wie realistisch halten Sie die Möglichkeiten der Neuroforschung - vom leistungssteigernden "Gehirndoping" bis zum Gedankenlesen?
Sturma: In diesen Visionen steckt ein wahrer Kern. Gerade bei Neuropharmaka zeigt sich, was schon beim "Gehirndoping" möglich ist. Das ist eine große ethische Herausforderung.
Die Gefahren durch das Ausspionieren mit bildgebenden Verfahren können wir praktisch vernachlässigen. Wir müssen doch jeden Tag aus der Presse entnehmen, dass es bereits sehr effektive Überwachungstechniken im öffentlichen Raum gibt.
GA: Wie konkret kann die Neuroethik werden? Gibt es ein "bis hierher und nicht weiter"?
Sturma: Ethiker haben nicht die Funktion, kategorisch "ja" oder "nein" zu sagen. Mir geht es zunächst einmal um die nachvollziehbare Aufbereitung der Fragestellung und die Entwicklung rechtfertigungsfähiger Wege zur Problemlösung.
Es ist vor allem zu vermeiden, bei konkreten ethischen Fragen einmal so und dann wieder ganz anders zu verfahren. Ethiker müssen helfen, Kriterien festzulegen, nach denen beurteilt wird. Diese Kriterien müssen ohne starke weltanschauliche Vorgaben auskommen.
Das trifft etwa auf die Grundprinzipien der Bioethik (Respekt vor Autonomie, Schadensvermeidung, Wohltun und Gerechtigkeit) zu, die weltanschaulich offen sind und kulturell unterschiedlich ausgestaltet werden können.
GA: Es kommt aber zu Zielkonflikten zwischen diesen Prinzipien, etwa zwischen Lebensschutz und Therapie bei der Forschung an embryonalen Stammzellen.
Sturma: Häufig geht es bei solchen Diskussionen um verschiedene Prioritäten - entweder Therapiemöglichkeiten oder Lebensschutz. Wichtig ist, dass solche Meinungsverschiedenheiten auf Gründe zurückgeführt werden.
Ethiker müssen hier immer wieder deutlich machen, dass es um die unterschiedliche Gewichtung der Prinzipien geht. Gerade bei der Forschung an embryonalen Stammzellen ist es schwierig, ein klares ethisches Urteil zu fällen, weil die gut begründeten Ziele von Lebensschutz und Therapiemöglichkeit nicht unmittelbar zur Deckung gebracht werden können.
Wir werden allerdings lernen müssen, mit demokratisch zustande gekommenen Beschlüssen zu leben, die den eigenen persönlichen Vorstellungen möglicherweise zuwiderlaufen.
Zur PersonDieter Sturma studierte Philosophie, Germanistik und Geschichte in Hannover und Göttingen.
Seit 2007 ist er Professor für Philosophie unter besonderer Berücksichtigung der Ethik in den Biowissenschaften an der Uni Bonn sowie Direktor des Instituts für Wissenschaft und Ethik sowie des Deutschen Referenzzentrums für Ethik in den Biowissenschaften. Lesen Sie dazu auch "Bonner Mediziner entdecken neue Hirntumor-Therapie"