Nachruf auf Ali Mitgutsch Trauer um den Vater der Wimmelbilder
Bonn · Trauer um den Münchner Zeichner Ali Mitgutsch, der im Alter von 86 Jahren gestorben ist. Generationen sind mit seinen Bilderbüchern groß geworden.
Heute ist meine Kindheit endgültig zu Ende gegangen.“ Es gibt wohl viele, die diese Worte des Journalisten Christoph Amend teilen. Ali Mitgutsch ist tot, der Schöpfer unvergesslicher Bücher, deren naive, fantastische Wimmelbilder wohl jeder schon einmal, ob als Kind, Mutter, Vater, Oma oder Opa, in Händen hielt. Wie erkläre ich meinem Kind die Welt? Genauer: Wie erkläre ich ihm die Komplexität der Welt, ohne es zu erschrecken? Generationen von Eltern haben das mithilfe von Ali Mitgutschs Bilderbüchern auf den Knien versucht, sind mit den Kindern auf Expedition durch dessen quirlige Bilderwelt gegangen.
Man erlebte, was alles am Strand los ist, auf dem Jahrmarkt, der Baustelle, mitten in der City. Tausend kleine Geschichten fügen sich zu einem Ganzen. Das Prinzip des Wimmelbilds. Man hatte sich den Inhalt von Mitgutschs Kopf vielleicht wie ein Wimmelbild vorzustellen, ein Gewusel von Ideen, von Episoden aus dem bunten Leben – jedenfalls heißt es, der Münchner Autor und Illustrator habe noch im hohen Alter das Haus nie ohne Stift und Papier verlassen. Er könnte ja etwas verpassen, einen noch nicht geborgenen Puzzlestein zum Mitgutsch-Universum. Nun ist dieser muntere Ideenspringbrunnen versiegt. Am Montagabend ist der Vater der Wimmelbücher 86-jährig gestorben.
Eine Inspiration für Künstler
Die Trauer ist groß. „Deine Arbeit war legendär und eine Inspiration für uns“, twitterte etwa der Komiker Thomas Spitzer. Zu seinem 85. Geburtstag hatte Mitgutsch bereits seinen Rückzug vom zeichnerischen Tagesgeschäft angekündigt. So leicht und lustig dieser Wuselkosmos wirkte, so aufwendig war die Produktion. „Das Zeichnen war für mich eine unendlich lange, oft auch beschwerliche, aber stets glückliche Lebensreise, auf die mir nur noch die Rückschau bleibt“, sagte er damals. Das erinnert an Mitgutschs Landsmann Karl Valentin mit seinem „Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit“. Die Wimmelbilder sind inzwischen zu musealen Ehren gekommen: 2015 waren sie im Troisdofer Bilderbuchmuseum auf der Burg Wissem zu sehen. Mehr als 70 Bücher, dazu Poster und Puzzles zählen zu seinem Werk. Allein in Deutschland hat er mehr als fünf Millionen Bücher verkauft.
Die Welt von Brueghel und Bosch
Als „Gärten der Fantasie“ hat Mitgutsch, der sich selbst einen Träumer nannte, seine Bilder einmal bezeichnet. „Garten der Lüste“ ist ein berühmtes Bild des Barockmalers Hieronymus Bosch betitelt, der mit Pieter Brueghel auf einem ganz anderen Niveau sozusagen der Urvater der Wimmelbilder ist, auf jeden Fall ein prominenter Vorläufer. Auch bei den barocken Meistern ging es um eine Erklärung des Weltgeschehens, allerdings aus biblischer Sicht, in der Regel stark moralisierend. Brueghel etwa illustrierte Sprichwörter über die Verdorbenheit der Menschen, Boschs dicht bevölkerten Höllenszenarien sind legendär.
In seiner Autobiografie „Herzanzünder“ erinnerte Mitgutsch an seine tiefreligiöse Mutter, die ihre drei Kinder nicht nur auf Wallfahrten mitnahm und dabei mit eigenen Geschichten bei Laune hielt, sondern ihnen auch am Ende der Reise in Kirchen christliche Dioramen zeigte, deren Figuren man mit ein paar Pfennigen in Bewegung setzen konnte. Der Ursprung der Wimmelbilder? „Für uns war das reinste Zauberei“, schrieb er, „der christliche Glaube durchwirkt doch alles und ist lebendiger Teil meiner selbst.“
Die Freude am Flanieren
Mitgutschs Welt ist freilich eine durch und durch heile, positive Welt. Was ihm von Kritikern angekreidet wurde. Um die großen Probleme, die seine jungen Leser betroffen haben mögen, mache er einen Bogen. Er pflegte darauf zu sagen, es gebe in seinen Geschichten genug Freiräume, um auch kritisch auf die Welt zu blicken. Was immer auch passiert, irgendwie muten seine Panoramen zeitlos an. Oder auch aus der Zeit gefallen. Autos und Traktoren, Busse und Eisenbahnen sehen heute anders aus, aber die Freude am Spiel, am Flanieren, an Streichen und am Plausch unter Freunden ist geblieben.
Irgendwie beneidete Mitgutsch auch seine kleinen Fans. „Ich hätte gerne eine ganz andere Kindheit gehabt, eine unbeschwertere“, sagte er, der 1935 in München zur Welt kam. Er war vier, als der Zweite Weltkrieg begann, die frühe Kindheit war von Hunger und Einsamkeit, vom Tod des Bruder an der Front, von der Angst im Luftschutzkeller, aber auch von den riesigen Trümmerhalden in Schwabing geprägt, die für ihn und seine Freunde zum Abenteuerspielplatz wurden.
Inspiration Schwabing
Sein geliebtes Schwabing wurde zum Ideensteinbruch, zur Quelle für Inspirationen. Viele seiner Geschichten kreisen um dieses wuselnde, quirlige Viertel. Fasziniert war er etwa vom Münchner Jahrmarkt Auer Dult, von einer Fahrt mit dem Riesenrad, von dem aus er das bunte Treiben beobachten konnte. Eine Perspektive, die Mitgutsch generell bei den Wimmelbildern wählte: Panoramen aus leicht erhöhter Perspektive, um den Überblick zu haben. Oder auch zu verlieren, was nicht selten passiert. Nicht so schlimm.
Schlimm ist nur, dass es momentan keinen Zeichner gibt, der kommenden Generationen die Welt so schön erklären kann wie Ali Mitgutsch.