"Der vermessene Mensch" von Lars Kraune Am Ende doch nur ein Feigling

Lars Kraune erzählt in „Der vermessene Mensch“ ein Historiendrama über die deutschen Kolonialverbrechen in Namibia. Das Werk ist konsequent als Täterfilm angelegt und überrascht zum Schluss.

Girley Charlene Jazama und Leonard Scheicher spielen die Hauptrollen in "Der vermessene Mensch".

Girley Charlene Jazama und Leonard Scheicher spielen die Hauptrollen in "Der vermessene Mensch".

Foto: dpa/Jens Kalaene

Die Studenten der Ethnologie an der Friedrich-Wilhelms-Universität im Berlin des Jahres 1896 sind voller Aufregung. Professor von Waldstätten (Peter Simonischek) hat jedem von ihnen ein eigenes „Exemplar“ versprochen. Bisher haben die Kommilitonen nur Totenschädel untersucht.

Aber jetzt ist zur „Völkerausstellung“ eine Delegation von Herero und Nama aus der Kolonie „Deutsch-Südwestafrika“ angereist, die genau vermessen werden sollen. Schädeldurchmesser, Nasenbreite, Anzahl der Zähne, Hautfarbenabgleich – die Zahlen sollen den „evolutionären Vorsprung“ der weißen Europäer vor den afrikanischen Völkern belegen.

Der Doktorand Alexander Hoffmann (Leonard Scheicher) hegt gewisse Zweifel an der herrschenden Lehrmeinung. Und die Dolmetscherin Kezia Kambazembi (Girley Charlene Jazama), die sich mit Tränen im Gesicht der entwürdigenden Vermessung unterzieht, wird diese Zweifel bestärken. Denn die ehemalige Missions-Schülerin ist intellektuell gebildet, kennt sich mit Literatur, Mathematik und Philosophie aus. In seiner Antrittsvorlesung versucht Hoffmann das Auditorium vergeblich davon zu überzeugen, dass der jungen Herero-Frau ein höherer Bildungsgrad nur durch äußere Umstände und nicht durch genetische Veranlagung versagt blieb. Wenige Jahre später bekommt Hoffmann die Chance selbst in die Kolonie zu reisen. Nach einem Aufstand hat die kaiserliche Armee einen blutigen Krieg gegen die Herero begonnen. Der Ethnologe soll Artefakte und Schädel der ermordeten Afrikaner einsammeln, nach denen an den deutschen Universitäten eine große Nachfrage besteht. Und natürlich hofft er auch darauf Kezia wiederzusehen. Nach historischen Schätzungen wurden zwischen 1904 und 1908 bis zu 60.000 Herero und rund 10.000 Nama in diesem ersten Genozid des 20. Jahrhunderts ermordet. Wenn es um die Aufarbeitung der Kolonialzeit geht, hat man sich hierzulande etwas bedeckt gehalten.

Daran will Lars Kraume nun mit „Der vermessene Mensch“ etwas ändern. Er hat seinen Film konsequent als Täterfilm angelegt, indem er einen idealistischen Ethnologen als Hauptfigur wählt, der vom rassistischen System des Genozids zunehmend korrumpiert wird. Wie schon in „Das schweigende Klassenzimmer“ untersucht Kraume auch hier sehr differenziert die fließenden Grenzen zwischen Opportunismus und Mittäterschaft. „Der vermessene Mensch“ entwirft keine großen Schlachtgemälden, sondern macht in einzelnen prägnanten Szenen klar, mit welcher rassistischen Menschenverachtung die deutsche Armee den Völkermord vorangetrieben hat. Gleichzeitig verweist Kraume auf die Rolle der Ethnologie, die mit pseudowissenschaftlichen Methoden und wider besseres Wissen an der Legitimierung imperialistischer Politik mitwirkte und gleichzeitig den Grundstein für die sogenannte Rassenlehre des Nationalsozialismus legte. Glücklicherweise widersteht der Film dem Klischee, eine romantische Beziehung zwischen der Herero-Frau, der die namibischen Schauspielerin Girley Charlene Jazama eine charismatische Würde verleiht, und deutschen Ethnologen zu implantieren. Ganz im Gegenteil entpuppt sich im Finale der vermeintliche, weiße Retter als das, was er meistens ist, wenn es drauf ankommt: ein Feigling.

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