Buchtipp Annie Ernaux liest zum Auftakt der lit.Cologne

Köln · Annie Ernaux erinnert sich in „Der Platz“ an ihren Vater und liest zum Auftakt der lit.Cologne. Ein schonungsloses, sehr persönliches Buch, das aber zugleich allen gehört, die von ihren Eltern bei aller Nähe viel zu wenig wissen

 Schonungslose Analyse: Die Autorin Annie Ernaux.

Schonungslose Analyse: Die Autorin Annie Ernaux.

Foto: Olivier Roller

„Alle Bilder werden verschwinden.“ Diese bittere Erkenntnis hatte Annie Ernaux ihrem Buch „Die Jahre“ vorangestellt. Hier wie in ihren anderen Selbst- und Welterkundungen möchte die Französin „etwas von der Zeit retten, in der man nie wieder sein wird“.

Nach „Erinnerungen eines Mädchens“ erscheint nun hierzulande der früheste dieser Versuche: „Der Platz“, von der Autorin schon 1983 verfasst. Glich sie in „Die Jahre“ ihr eigenes Leben mit den Ereignissen der Epoche (Kalter Krieg, Studentenrevolte, Emanzipation) ab, so fasst sie hier den Rahmen enger.

Es geht um ihren Vater, der mit 67 Jahren starb, kurz nach Annies Lehrprobe als Gymnasiallehrerin. „Opa macht heia“, sagte ihr kleiner Sohn beim Anblick der Leiche. Der Tote war zuerst Bauer, dann Krämer und Kneipenbesitzer im normannischen Yvetot gewesen. „Barmherzigkeit für die Armen ist das Schönste, was es auf der Welt gibt“, stand in der Lernfibel des Analphabetensohns.

Ohne Pathos, Larmoyanz oder jedwede Romantisierung erzählt die 1940 geborene Tochter vom Arme-Leute-Stolz der Eltern, aber auch vom „andauernden, bodenlosen Mangel“. Zu viele Kunden ließen in der Kaschemme anschreiben, und irgendwann fügten sich die Betreiber wohl in dieses „Leben mit gesenktem Blick“. Der Vater ersehnte ein edles Lokal mit Kaffeemaschine auf dem Tresen, doch wich diese Idee dem Stellvertretertraum, dass es Annie einmal besser haben möge.

Entfremdung durch Sprache

Doch die distanzierte sich mit 16, vergrub sich in ihre Bücher, die ihm unheimlich waren und die er für die Wurzel ihrer schlechten Laune hielt. Sehr genau protokolliert Ernaux diese Entfremdung durch Sprache: „Seine Wörter hatten im Französisch- oder Philosophieunterricht und auf den roten Samtsofas meiner Schulfreundinnen keine Gültigkeit.“ Doch das Schweigen war wohl nicht ohne Wirkung: „Vielleicht schreibe ich, weil wir uns nichts mehr zu sagen hatten.“ Man denkt unwillkürlich an Ulla Hahns autobiografisch getönte Romane um Hilla Palm, die sich ebenfalls als Kind „vun nem Prolete“ empfand. Später wollte sie diese intellektuelle, auch emotionale Kluft unbedingt schließen.

Auch ihre Kollegin spürt den Zwiespalt zwischen Ablehnung und Zuneigung, das Schuldgefühl eines unvermeidlichen Verrats am eigenen Milieu. Offen bekennt sie das Problem, sich richtig, also gerecht, zu erinnern. Oft nimmt sie Fotos zur Hilfe, doch die Abgebildeten verweigern die Aussage. So habe sie für dieses kurze Buch Monate gebraucht, „weil es mir schwerer fällt, vergessene Ereignisse ans Licht zu holen, als neue zu erfinden. Das Gedächtnis leistet Widerstand“. Mit 59 wurde Annies Vater krank („Ich bin zu nichts mehr nütze“), doch als er mit 65 endlich krankenversichert war, gab ihm dies noch einmal neuen Lebensmut.

Die Autorin maßt sich nicht an, diesen wortkargen Mann jetzt verstanden zu haben. Sie ist nach wie vor auf Spekulationen angewiesen: „Vielleicht sein größter Stolz, sogar sein Lebenszweck: dass ich eines Tages der Welt angehöre, die auf ihn herabgeblickt hatte.“

Ein schonungsloses, sehr persönliches Buch, das aber zugleich allen gehört, die von ihren Eltern bei aller Nähe viel zu wenig wissen.

Annie Ernaux: Der Platz. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Bibliothek Suhrkamp, 95 S., 18 Euro. Die Lesung auf der lit.Cologne am 20. März ist ausverkauft.

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