Abschluss der Berlinale Auf der Höhe der Zeit

Berlin · Die Berlinale gibt sich gewohnt politisch und prämiert Gianfranco Rosis gelungene Flüchtlingsdokumentation „Fuocoamare“ mit dem Goldenen Bären.

 Goldener Bär: Jurypräsidentin Meryl Streep gratuliert Gianfranco Rosi, Regisseur von „Fuocomare“. FOTO: AP

Goldener Bär: Jurypräsidentin Meryl Streep gratuliert Gianfranco Rosi, Regisseur von „Fuocomare“. FOTO: AP

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In einem Wettbewerb, der sich dem filmkünstlerischen Umgang mit der gesellschaftlichen Realität verschrieben hatte, ist es nur eine folgerichtige Konsequenz, dass am Samstagabend im Berlinale-Palast am Potsdamer Platz mit Gianfranco Rosis „Fuocoamare“ auch ein Dokumentarfilm den Goldenen Bären erhielt.

Damit wurde von der Jury um Meryl Streep ein Film ausgezeichnet, der voll auf der Höhe unserer bewegten Zeit ist und das Thema Flüchtlingskrise jenseits der bekannten Nachrichtenbilder auf die Leinwand bringt. „Fuocoamare“ begibt sich auf die Insel Lampedusa. Wer behauptet, die Migrationswelle sei plötzlich und unerwartet über uns hereingebrochen, der wird auf der italienischen Insel eines Besseren belehrt.

Seit zwanzig Jahren landen auf Lampedusa die Geflüchteten aus Afrika, die sich in überladenen Booten auf den Weg in ein besseres Leben machen. Schätzungsweise 15 000 sind auf der gefährlichen Reise bisher ums Leben gekommen und „Fuocoamare“ erspart uns diese Bilder nicht: Nachdem die Küstenwache Hunderte Flüchtlinge aus einem Boot gerettet hat, begleitet die Kamera die Helfer in den Schiffsrumpf, wo die Leichen derer übereinanderliegen, die auf der Überfahrt erstickt oder an Dehydrierung gestorben sind.

Rosi kontrastiert diese Bilder mit dem Alltag der Inselbewohner und der scheinbar unbeschwerten Kindheit eines Fischerjungen, der sich im Verlauf des Filmes zum eloquenten Entertainer mausert. „Fuocoamare“ zeigt aber auch die Selbstverständlichkeit, mit der die Bewohner von Lampedusa es als ihre menschliche Pflicht begreifen, den Flüchtlingen zu helfen. Mit „Fuocoamare“ hat in Berlin vielleicht nicht der beste, aber mit Sicherheit der wichtigste Film gewonnen.

Fast alle Wettbewerbsbeiträge dieses guten, aber nicht herausragenden Jahrgangs beschäftigten sich mit gesellschaftlichen oder aber auch ganz persönlichen Umbrüchen. Das gilt für Lav Diaz' philippinisches XXL-Revolutionsdrama „A Lullaby to the Sorrowful Mystery“ (Silberner Bär für einen Spielfilm, der neue Perspektiven eröffnet) genauso wie für den zweiten Hauptpreisträger „Death in Sarajewo“ von Danis Tanovic (Großer Preis der Jury), der im Mikrokosmos eines Hotels die Verwerfungen und die jüngsten Kriegserfahrungen reflektierte.

Der polnische Beitrag „United States of Love“ von Tomasz Wasilewski (Silberner Bär für das beste Drehbuch) reiste zurück in die Wendezeit und zeigte, dass auch im Solidarnosc-Land das Ende des Sozialismus mit persönlichen Verstörungen einher ging. Dieser Preis ist ebenfalls ein politisches Signal, denn Filme, wie dieser, werden es unter der reaktionären Regierung in Polen demnächst deutlich schwerer haben.

Neue Rollenbilder und die Grenzen der freien Liebe

Von beidem – dem gesellschaftlichen wie dem persönlichen Umbruch – erzählt der tunesische Beitrag „Hedi“ von Mohamed Ben Attia (Silberner Bär für den besten Darsteller Majd Mastoura), der das Thema Zwangsverheiratung einmal aus Männersicht angeht und einen jungen, von sich selbst überraschten Mann im Rausch der Liebe, das eigene Leben auf den Kopf stellen lässt. Auf sehr sensible Weise zeigt der Film, dass auch in arabischen Ländern die Geschlechterrollen in Bewegung sind. In vielen Beiträgen dieses klug komponierten Wettbewerbs wurden Männer- und Frauenbilder auf sehr unterschiedliche Weise neu befragt: Der neuseeländische Filmemacher Lee Tamahori erzählte in „Mahana“ vom Sturz eines Patriarchen in einer Maori Familie, der Kanadier Denis Côté untersuchte in „Boris sans Beatrice“ männliche Überlegenheitskomplexe und Spike Lee ließ auf Lysistratas Spuren in „Chi-Raq“ schwarze Frauen-Power-Aktivistinnen mit einem Sexstreik gegen die hypermaskulinen Ghetto-Krieger antreten. Zwei Frauenfiguren, die mitten im Leben stehen, ebneten auch den Weg zu zwei weiteren Silbernen Bären: In Mia Hansen-Løves „L'Avenir“ (Silberner Bär für die beste Regie) muss eine Philosophie-Lehrerin, nachdem ihr Mann sie verlassen hat, ihr Leben neu justieren.

Dass nicht die fabelhafte Isabelle Huppert den Bären als beste Hauptdarstellerin bekommen hat, sondern die famose Trine Dyrholm, die in Thomas Vinterbergs „Die Kommune“ die Grenzen der freien Liebe in einer 70-Jahre-WG erkundet, ist völlig in Ordnung. Madame Huppert hat schon genug Preise in der Vitrine und Fru Dyrholm ist mit sieben Teilnahmen eine zertifizierte Berlinale-Veteranin, die sich als zentrale Figur des dänischen Kinos endlich auch eine internationale Auszeichnung verdient hat. Festivalleiter Dieter Kosslick und sein Auswahlgremium haben in diesem Jahr einen durchgehend interessanten Wettbewerb zusammengestellt, der fast keine Nieten, aber auch kein Meisterwerk enthielt. Aus der Not, dass die großen Namen vornehmlich zum Festivalgiganten nach Cannes wandern, hat die Berlinale längst eine Tugend gemacht. Es ist – und bleibt hoffentlich – ein Festival der Entdeckungen und eng vernetzt mit den Umwälzungsprozessen, die die globalisierte Gesellschaft heute in Atem halten.

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