Einkaufen in den USA Das Frederick-Experiment

Shopping Malls galten über Jahrzehnte als Symbol nordamerikanischer Konsumkultur. Nun schließen immer mehr Einkaufszentren ihre Pforten. Viele Kunden zieht es wieder verstärkt in revitalisierte Innenstädte. Hier erlebt der lokale Einzelhandel gerade einen Gründungs-Boom. Ein Einkaufsbummel in Maryland.

 Typisch amerikanisch? Überdachte Shopping Malls haben in den USA ihre beste Zeit längst hinter sich.

Typisch amerikanisch? Überdachte Shopping Malls haben in den USA ihre beste Zeit längst hinter sich.

Foto: Martin Wein

Frederick ist eigentlich nicht der Rede wert. 65.000 Menschen wohnen in der Provinzstadt im Bundesstaat Maryland, dort, wo die Ausläufer der Appalachen ins hügelige Weinland am Potomac River übergehen. Die Schulen sind der größte Arbeitgeber. Touristen kommen, um die nahen Schauplätze des Bürgerkrieges in Antietam oder Gettysburg zu besuchen. Der Horrorfilm „Blair Witch Project“ wurde in den Wäldern der Umgebung gedreht, US-Präsidenten machen im nahen Camp David Urlaub.

Doch gerade weil Frederick auf den ersten Blick so durchschnittlich wirkt, ist ein Spaziergang durch seine überschaubare Innenstadt besonders lehrreich. Die Stadt ist nämlich ein ungeplantes Freiluft-Experiment für eine Entwicklung, die derzeit die USA mehr verändert als mancher US-Präsident. Vergangenen Monat haben Arbeiter hier ein Einkaufszentrum abgerissen. Und in der verbliebenen Francis-Scott-Key-Mall am Stadtrand – sie ist nach dem Autor der amerikanischen Nationalhymne benannt, der auf dem Drive-through-Friedhof von Frederick begraben liegt – herrscht am Samstagmittag gespenstische Leere.

Frederick ist kein Einzelfall: Ließen in der Zeit von 1955 bis 2005 im ganzen Land 1500 neue Einkaufszentren viele Innenstädte veröden, so hat die Entwicklung mittlerweile offenbar ihren Zenit längst überschritten. Die Immobilienmarkt-Experten von Green Street Advisors gehen davon aus, dass 15 Prozent der Einkaufszentren bis zum Ende des Jahrzehnts schließen. Der Branchenexperte Howard Davidowitz sieht sogar jede zweite Mall scheitern. Das Internet ist eben noch bequemer als ein klimatisierter All-in-Einkaufstempel mit Riesenparkhaus.

„Aber das Internet ist daran nicht allein schuld. Die Leute wollen wieder an die frische Luft, sie wollen Beratung und Anregung, und sie wollen, dass ihr Geld in der Gemeinde bleibt“, sagt Tom England und öffnet die Tür zum „Dancing Bear“, seinem Spielwarengeschäft in der Patrick Street von Frederick. Ist das ein Feuerwehrhelm, der da verkehrt herum auf dem Fußboden kullert?

Tom England möchte sich nicht festlegen. „Das denken die meisten zuerst, wegen der roten Farbe“, sagt der Geschäftsmann. „Sehen Sie, man könnte das Ding auch als Obstkorb benutzen oder eine Spielzeugeisenbahn drunter durch fahren lassen. Dann wäre es ein Tunnel“, überlegt Tom weiter und dreht das Spielzeug nun mit gespielter Unschlüssigkeit in den Händen. „Machen Sie damit doch, was Sie wollen“. Im Internet lässt sich so ein Spielzeug freilich nicht verkaufen. „Das muss man anfassen, anschauen und ausprobieren“, findet Tom.

Seit 16 Jahren ist genau das sein Geschäftsmodell. Damals machte sich der ehemalige Pharmazeut im Staatsdienst mit seinem Laden selbständig. Seine Ware ist von ihm persönlich getestet und garantiert ohne Batterien. „Spielcomputer sagen: Drücke eine Taste. Dann passiert etwas. Das macht doch nicht kreativ“, erklärt Tom seine Einstellung. Und damit ist er nicht mehr allein: „Hier kommen viele Eltern mit leuchtenden Augen rein. Die erleben ihre eigene Kindheit nach. Und die Kinder schätzen das ebenso“, lässt Tom nun eine Handpuppe in Gestalt eines Fischotters sagen und grinst dazu übers ganze Gesicht. Jüngst ist er mit seinen neun Angestellten in ein größeres Ladenlokal umgezogen.

Ist Tom England ein Träumer auf der vergeblichen Suche nach der guten alten Zeit? 7000 privat geführte Spielwarengeschäfte gebe es inzwischen landesweit, schätzt er. Sie seien gut vernetzt und hülfen sich mit Tipps und gemeinsamen Einkäufen.

Aber auch in der Stadt hat Tom längst Verstärkung. Tritt man wieder aus seinem Laden, dann fällt der Blick auf gepflegte Häuser mit Giebeln, Schmuckputz und geschmiedeten Geländern, viele noch aus dem vorletzten Jahrhundert. Ein schwarzer Bestattungswagen steht am Bordstein. Auf der Rückseite wirbt das Gefährt etwas morbide für „Cakes to die for“ („Kuchen, für den man sterben möchte“) – eine lokale Konditorei. Nebenan bewirbt jemand mit Malkreide auf dem Bordstein die 60 Sorten Olivenöl in seinem Feinkostgeschäft. Bei „Zoe`s“ gibt es dicke Schokoladentrüffel aus eigener Herstellung. Die passten auch erstaunlich gut zu den Bieren aus der lokalen „Flying Dog“-Brauerei, meint die Angestellte.

Wenige Schritte weiter hat vor zehn Monaten Sharon Crisafulli im Alter von 50 Jahren ihren Käseladen eröffnet. Anders als all die Wal Marts und Safeways verkauft sie Käse nicht nur eingeschweißt, sondern frisch aufgeschnitten und nach persönlicher Beratung. Rohmilchkäse, Ziegengouda, französischer Blauschimmel – Sharons Kunden, die bislang nur gefärbten Cheddar und Philadelphia kannten, machen ständig neue Entdeckungen. In Seminaren und Verkostungen bringt die ehemalige Immobilienmaklerin ihre Kundschaft auf den Geschmack – Mutter Betty (81) und Tochter Catlin (22) helfen dabei. Billig ist ihr Angebot nicht, „aber die Geschäfte laufen blendend“.

Um Kunden muss sich auch Michelle Schaffer mit ihrem nostalgischen Soda-Pop-Shop keine Sorgen machen. 400 Sorten Limonade stehen in kleinen Glasflaschen in den Regalen zur Auswahl, importiert aus Australien, Japan, Kanada und Europa, aber auch von Herstellern aus der Region. Zitrusfrische, Beerencocktail, „Leninade“ mit Hammer und Sichel auf der Packung und Wodka-Anteil in der Erdbeerlimo. Dazu bestellt das zahlreiche, vorwiegend jugendliche Publikum frische Hot Dogs und Eiscreme eines lokalen Herstellers. Wer braucht da noch McDonald’s, Subway oder die anderen Ketten? Die halten sich in Frederick nur an den Ausfallstraßen.

Selbst ein inhabergeführter Buchladen mit dem lustigen Titel „Neugieriger Leguan“ hat vor einem Jahr wieder in Frederick eröffnet. „Die Leute kamen mit Tränen in den Augen zu uns, weil es das zehn Jahre lang nicht mehr gab“, sagt Marlene England, die den Jubel ihres Gatten über sein Spielzeug nicht mehr ertragen konnte.

Klar machten die Filialisten wie Barnes & Nobles ihr Geschäft und in vielen Haushalten lägen E-Reader. „Zu uns kommen aber selbst Studenten, die wieder Hardcover kaufen, weil sie nach dem Tag in der Uni in ihrer Freizeit wieder etwas Gedrucktes in die Hand nehmen wollen.“ Die Zukunft des gedruckten Buches habe gerade erst begonnen, glaubt Marlene, und selbst die lokale Zeitung habe gerade ein neues Headquarter bezogen.

Der Branchenmix aus Mode, Konsum und speziellen Lebensmitteln lockt inzwischen auch andere. Marriot renoviert das alte Straßenbahndepot denkmalgerecht für ein erstes Innenstadthotel. Nach einer entsprechenden Gesetzesänderung wollen ein paar Freunde im Sommer eine kleine Whiskey-Destillerie im Ort eröffnen. Und in ein ehemaliges Autohaus in Frederick ist ein Burgerladen für Feinschmecker eingezogen.

Dabei erntet auch die lokale Produktion zunehmend mehr Aufmerksamkeit. Eine Stunde Autofahrt nehmen Leute aus der Hauptstadt Washington in Kauf, um bei Obstbauer Bob Black vor den Toren Fredericks Äpfel oder Erdbeeren selbst zu pflücken. „Wir haben das letztes Jahr erstmalig angeboten. Die haben uns völlig überrannt. Sie kamen selbst bei strömendem Regen“, sagt Black mit einem Korb Pink Lady aus dem Kühlhaus und seinem jüngsten Sohn auf dem Schoß.

In seinem Hofladen bietet Black je nach Saison Birnen, Pflaumen, Kirschen, Beeren, Aprikosen, Kohl, Salat und Kartoffeln an – dazu zwölf Sorten Pfeffer. Demnächst will er auf einem Hang noch Weintrauben anbauen. Für eilige Köche gibt es „Friendship-Soup“ mit Gemüse, Nudeln und Brühepulver getrocknet im Glas oder die besonders beliebten backfertigen Apple-Pies frisch in der Alu-Schale.

Gedüngt wird mit Kompost von lokalen Bauern und gespritzt überhaupt nicht. Klingt nach Sozialromantik angesichts der industrialisierten Landwirtschaft? Von wegen. Bob Black sieht sich durchaus als Geschäftsmann. „Vielfalt ist unser Überlebensrezept“, sagt er. „Die Kirschen sind uns dieses Jahr erfroren, aber die Äpfel entwickeln sich gut.“

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