Buchtipp Die zarte Königin der Boheme

Bonn · Der Autor Lars Brandt hat das rätselhafte Werk der norwegischen Dichterin Dagny Juel übersetzt und ihren Lebensweg recherchiert. Am Freitag stellt er das Buch "Dagny Juel: Flügel in Flammen. Gesammelte Werke" in Bonn vor.

 Wie eine Madonna: Dagny Juel (1867–1901) auf einem undatierten Foto. FOTOS: WEIDLE VERLAG

Wie eine Madonna: Dagny Juel (1867–1901) auf einem undatierten Foto. FOTOS: WEIDLE VERLAG

Foto: Dagny

Man kann sich lebhaft vorstellen, wie die Luft vibrierte, Frauen wie Männer den Atem anhielten, wenn die junge, schöne, kapriziöse Schriftstellerin Dagny Juel das Berliner Szenelokal „Zum schwarzen Ferkel“ betrat. Fotos zeigen sie mit betörendem Schlafzimmerblick und leicht lebensüberdrüssigem Gesichtsausdruck. Juels Landsmann, der norwegische Maler Edvard Munch, hat sie wiederholt mit diesem Ausdruck oder ermattet auf dem Bett liegend gemalt – leere Flaschen auf dem Tisch. Der Autor und Kunstvermittler Julius Meier-Graefe, wie August Strindberg ein glühender Bewunderer der rätselhaften Schönen, meinte, sie nicht gekannt zu haben, sei der Verlust einer durch nichts zu ersetzenden Erfahrung. Über ihre Erscheinung schrieb er, sie sei „sehr schlank mit den Formen einer Madonna des Trecento, mit einem Lachen, das Männer rabiat machte“, sie habe literweise Absinth trinken können, ohne betrunken zu werden – „Sie war eine sehr zarte Königin, voll Übermut und tollkühner Frechheit und von einer knabenhaften Hoheit, die selbst im wüsten Taumel unverletzlich blieb.“

Harry Graf Kessler notierte ihre Zerrissenheit in sein Tagebuch, „das gleichzeitige Ja- und Neinsagen zur modernen Wirklichkeit“. Der in Bonn lebende Schriftsteller Lars Brandt schließlich beschreibt die zutiefst irritierende „Elastizität ihrer Person“ so: „Androgyn und geschmeidig einsam für sich selbst zwischen den Polen ihrer Existenz tanzend, der wohlerzogenen, gut versorgten bürgerlichen Welt, aus der sie stammte, und jener der brachialen Egoismen in der ekstatischen Armut des Künstlermilieus, das sie sich als Lebenselement wählte.“

Brandt und dem Bonner Weidle Verlag ist es zu verdanken, dass Dagny Juel als schillernde Figur des Fin de Siècle, Protagonistin, Muse und Akteurin der Berliner Boheme und nicht zuletzt als Schriftstellerin greifbar wird. Brandt hat ihr schmales, aber unglaublich intensives und fesselndes Werk aus dem Norwegischen ins Deutsche übersetzt und ordnet es in einem brillanten, wunderbar zu lesenden biografischen Essay literarisch und zeithistorisch ein. Mehr noch: Es gelingt ihm en passant das Porträt, besser: das Psychogramm einer überaus faszinierenden, hochemotionalen, brüchigen und enigmatischen kurzen Epoche zwischen Historismus und Moderne, die wir als Fin de Siècle kennen und auf 1890 bis 1914 datieren.

Juel wurde 1867 in Südnorwegen in eine alte Adelsfamilie geboren. Der Vater war Leibarzt des schwedischen Königs, wenn der sich in Norwegen aufhielt. Die junge Frau wird zur Konzertpianistin ausgebildet, zieht 1893 nach Berlin, um ihr Studium fortzusetzen, nimmt Kontakt mit der skandinavischen Community auf. Sie heiratet nach kurzer Zeit den charismatischen polnischen Schriftsteller und Satanismus-Fan Stanislaw „Stachu“ Przybyszewski, der sie zunächst verehrt, später wie Dreck behandelt. Am 8. Juni 1901 wird die Autorin und zweifache Mutter von einem Anhänger ihres inzwischen getrennten Gatten in Tiflis erschossen.

Morbide Dramen spielen sich ab

Nur ein halbes Jahrzehnt umfasst Juels literarisches, in der Öffentlichkeit zunächst kaum beachtetes Werk: Etwas Prosa, Lyrik, vier kurze Theaterstücke. Morbide Dramen spielen sich ab, Liebesgeschichten, die hochemotional sind, aber nie glücklich und bisweilen tödlich enden, gespenstische Dreiecksverhältnisse, deren Protagonisten mitunter als Dämonen auftreten. Vieles geschieht wie im finstersten Albtraum. Gelegentlich geht es zu wie auf einer okkulten Geisterbeschwörung. Juel ist da literarisches Kind ihrer Zeit: 1897 brachte Bram Stoker „Dracula“ auf den Markt, Sigmunds Freuds „Studien über Hysterie“ erschienen 1885, seine wegweisende „Traumdeutung“ im Jahr 1900. Einiges verbindet Juel auch mit Edgar Allan Poe – in Juels Stück „Der Stärkere“ muss Siri beim Anblick eines Bildes ständig an „Das Haus Usher“ denken. Später wird Siri von ihrer Vergangenheit, von ihrem Verflossenen, dem manipulativen Tor, eingeholt, der sie ihrem Gatten Knut entreißt. Tor: „Oh, wie du dich danach sehnst, wieder meinen Fuß in deinem Nacken zu spüren!“ Da sträubt sich Siri noch – und stürzt sich dann wie magisch angezogen ins Unglück: „Ich habe immer gewusst, dass ich für das Unglück geschaffen bin.“

Juel stellt ihre weiblichen Figuren mitunter als „verhext“ da, Opfer widersprüchlicher Gefühle, bedrängt von Ängsten und Dämonen, eingeengt in einem Geflecht aus Konventionen, quasi gezwungen, daraus auszubrechen, den Weg der vermeintlichen Sünde zu gehen – selbst wenn das in den Tod mündet. Juels Frauen sind entweder sinnliche, leidenschaftliche, sehr empfindsame Spielbälle männlicher oder auch weiblicher finsterer Mächte oder sie sind auch weibliche Inkarnationen des Bösen wie im Stück „Ravnegard“.

„Allzu heftig kocht es in den Köpfen und Herzen einer künstlerischen Boheme, die noch in ihrem Aufbegehren gegen die Fesseln einer Vergangenheit deren tief von ihr geformtes Produkt ist“, charakterisiert Brandt sehr fein die Zeit, in der Juel wirkte: „Man sieht dort Frauen, die zu wenig aus ihren Möglichkeiten machen, zwischen Männern, die über ihre geistigen, seelischen und charakterlichen Verhältnisse leben.“

Juel bleibt bei all der Modernität ihrer Texte gesellschaftlich in der Grauzone: Als literarisches Talent geflissentlich von vielen übersehen, als Femme Fatale großteils eine Projektion der Männer, letztlich Opfer einer Gesellschaft, die noch nicht reif für Dagny Juel war.

Ein hinreißendes, trauriges Buch.

Dagny Juel: „Flügel in Flammen. Gesammelte Werke“. Aus dem Norwegischen und mit einem Essay von Lars Brandt. Weidle Verlag, 171 S., 20 Euro. Lesung: Brandt stellt das Buch am 8. März, 20 Uhr , in der Buchhandlung Böttger, Thomas-Mann-Straße 41, vor. Es liest Katharina Waldau, Barbara Weidle moderiert den Abend.

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