Druck auf documenta Documenta im freien Fall

Bonn · Blauäugiger Blick in den Globalen Süden: Die documenta wird die Kritik nicht los und kündigt Untersuchung an. Generaldirektorin lehnt Rücktritt weiter ab.

 Frank-Walter Steinmeier mit Claudia Roth (links) und Sabine Schormann nach der Eröffnung der „documenta fifteen“ in Kassel.

Frank-Walter Steinmeier mit Claudia Roth (links) und Sabine Schormann nach der Eröffnung der „documenta fifteen“ in Kassel.

Foto: dpa/Uwe Zucchi

Auf dem Global Media Forum der Deutschen Welle Anfang dieser Woche in Bonn waren die Forderungen aus dem sogenannten Globalen Süden nicht zu überhören: Man verlangt nach mehr echter Teilhabe und Berücksichtigung, wenn westliche Medien berichten, die den Süden gewöhnlich durch die West-Brille sehen. Man ist genervt, wenn brennende Themen aus Indien oder Afrika vom Westen ausgeblendet werden, wenn es die Tagesagenda so will.

Auch in der Kunstszene gab es immer wieder Forderungen, dem Globalen Süden mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Kritik gab es etwa an der documenta. So funktionierte die sich gerne Weltkunstschau nennende Ausstellung bislang nach dem Prinzip, dass ein Kurator aus Europa (der Nigerianer Okwui Enwezor war die einzige Ausnahme) mit seinem Team sich bestenfalls einzelne Positionen aus dem Süden herauspickte. Das sollte nun mit der documenta 15 erstmals anders werden. Man lud das indonesische Kollektiv Ruangrupa als Kuratorenteam ein, das wiederum mehre Dutzend Kollektive aus dem Globalen Süden nach Kassel holte.

Maximale Eskalation

Die documenta hat den künstlerischen Part also an den Globalen Süden abgegeben. Doch die Verantwortung bleibt, wie man gerade sieht. Antisemitismusvorwürfe schon im Vorfeld, maximale Eskalation am Beginn der 100 Tage laufenden documenta, heftige Kritik am Krisenmanagement, Rücktrittsforderungen gegen Generaldirektorin Sabine Schormann, sogar gegen Kulturstaatsministerin Claudia Roth. Skandal ist dafür ein zu kleines Wort.

Glaubt man den Kritikern, ist das eine Katastrophe mit Ansage. Offensichtlich war man viel zu blauäugig, als man dem Globalen Süden das Feld in Kassel überließ. Den Globalen Süden als homogenes Wertesystem gibt es ebenso wenig wie pauschal den Norden oder den Westen. Was im „Süden“, in Jakarta, Gaza oder Ramallah offenbar kritiklos durchgeht, ist in Deutschland, der eigenen Geschichte geschuldet, unverhandelbar: Bei Antisemitismus gilt hier eine Null-Toleranz-Regel. Da steckt die documenta tief in der Klemme. Ein kulturelles Problem? Viel mehr.

Grenzwertige Beiträge

Die Nähe einiger Ruangrupa-Mitglieder zur israelfeindlichen Kampagne „Boycott, Divestment and Sanctions“ (BDS), grenzwertige Beiträge von Künstlern aus Gaza und Ramallah, der politische Agitprop von Taring Padi, all dies hätte man im Vorfeld untersuchen können.

Schormann sei versichert worden, dass es auf der documenta keine antisemitischen Motive zu sehen gebe, sagte sie. „Dieses Versprechen haben wir leider nicht gehalten. Und das hätte nicht passieren dürfen“, sagte sie dem ZDF und dem Hessischen Rundfunk. „Antisemitische Darstellungen dürfen in Deutschland, auch in einer weltweit ausgerichteten Kunstschau, keinen Platz haben. Dies gilt ausdrücklich auch bei allem Verständnis für die Belange des Globalen Südens und die dort verwendete Bildsprache.“

Ein kritisiertes Werk zeigte einen Soldaten mit Schweinsgesicht. Er trägt ein Halstuch mit einem Davidstern und einen Helm mit der Aufschrift „Mossad“, die Bezeichnung des israelischen Auslandsgeheimdienstes. Während die documenta mit der Aufarbeitung des Eklats rund um das Banner „People‘s Justice“ des indonesischen Kollektivs Taring Padi und die antisemitischen Motive vollauf beschäftigt ist, tauchen am Horizont bereits neue Wolken auf. So sorgen pro-palästinensische Propagandafilme im Programm der documenta für Kritik. Der Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland, Johann Hinrich Claussen, monierte, dass die documenta im Programm unkommentiert pro-palästinensische Propagandafilme aufführe. Diese Filme stünden in Verbindung mit der linksterroristischen und antisemitischen Gruppe Japanische Rote Armee, die Anfang der 70er-Jahre Anschläge in Israel mit vielen Toten verübt hatte. Claussen: „Wir haben es hier nicht nur mit der Verbreitung antisemitischer Klischees zu tun, sondern mit der
Präsentation von Propagandafilmen aus einem anti-israelisch-terroristischen Kontext“. 

Vorsitzender des documenta-Forums zurückgetreten

Mit Unverständnis hatte der Vorsitzende des documenta-Forums, Jörg Sperling, indes auf den Eklat reagiert: Er kritisiert die Entfernung des Kunstwerks auf dem Friedrichsplatz: „Eine freie Welt muss das ertragen“, sagte er. Das Bild sei eine Karikatur und seiner Meinung nach von der Kunstfreiheit gedeckt. Sperling ist inzwischen zurückgetreten.

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