Podiumsdiskussion auf der documenta „Ein Eigentor aller erster Güte!“

Bonn · Streit in Kassel geht weiter. Claudia Roth droht mit Ausstieg des Bundes. Eine Podiumsdiskussion der documenta versucht, den Antisemitismus-Vorwürfen nachzugehen.

 Documenta-Werk von Taring Padi im Kasseler Hallenbad.

Documenta-Werk von Taring Padi im Kasseler Hallenbad.

Foto: Thomas Kliemann

In Kassel liegen die Nerven blank. Nachdem Kulturstaatsministerin Claudia Roth im Zuge des Antisemitismus-Skandals mehr Einfluss des Bundes auf die documenta gefordert und damit gedroht hatte, den Geldhahn zuzudrehen, ist Christian Geselle, Kassels Oberbürgermeister und Aufsichtsratsvorsitzender der documenta-Gesellschaft, in die Offensive gegangen. Kassel könne die documenta auch ohne Bundesmittel stemmen. Mittwochabend luden die Bildungsstätte Anne Frank und die Trägergemeinschaft documenta gGmbH gemeinsam zu einer Podiumsdiskussion zum Thema „Antisemitismus in der Kunst“ nach Kassel ein. Man konnte dem von dem Kölner Journalisten Stefan Koldehoff moderierten Podium auch online folgen. Teilnehmer waren der Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, Meron Mendel, der wissenschaftliche Direktor der Bildungsabteilung des Zentralrats der Juden in Deutschland, Doron Kiesel, Nikita Dhawan, Professorin für politische Theorie und Ideengeschichte in Dresden,  Adam Szymczyk, Leiter der documenta 14 (2017), und Hortensia Völckers, künstlerische Direktorin und Vorstandsmitglied der Kulturstiftung des Bundes.

Hortensia Völckers: „Der Schaden ist sehr groß“


Hessens Kunstministerin Angela Dorn sprach in ihrem Grußwort von einer „Grenzüberschreitung“. Auf der documenta seien „eindeutig antisemitische Darstellungen“ gezeigt worden, „das hätte im Sinne eines verantwortungsvollen Kuratierens nicht passieren dürfen“. Dorn plädierte dafür, „einen strukturellen Prozess anzustoßen“. „Der Schaden ist sehr groß“, meinte Völckers. Sie sieht die häufig geforderte Kontrolle der documenta durch den Bund (die Kulturstiftung des Bundes steuert 3,5 Millionen Euro bei) problematisch. „Staatsferne trotz staatlicher Förderung“ sei ein wertvolles Prinzip, „ohne die Autonomie der Institutionen kommen wir nicht klar“, sagte sie. „Wenn der Bund fördert, gehen wir davon aus, dass der Veranstalter nichts Menschenfeindliches oder Antisemitisches zulässt“, sagte sie. Was die documenta angehe, spürt sie einen „Vertrauensverlust“: „Das war ein Eigentor aller erster Güte!“

Kritik: Keine Künstler aus Israel eingeladen

Szymczyk sagte, es habe bei ihm keine inhaltlichen oder Vorgaben gegeben, auch nicht, was die Repräsentanz einzelner Nationen angeht. Das passe nicht zur documenta. Zuvor hatten Mendel und Kiesel kritisiert, dass zwar palästinensische, jedoch keine israelischen Künstler zur aktuellen documenta eingeladen worden seien. Für Mendel und Kiesel ist durch den Antisemitismus-Eklat eine Grenze überschritten. „Über diese Bilder hätten sich Adolf Eichmann und Joseph Goebbels gefreut“, sagte Kiesel und beklagte die Folgenlosigkeit des Eklats. Wer hier in Deutschland auftrete, „ist in die Haftung zu nehmen“: Antisemitismus sei kein Problem der Juden, es ist ein Problem aller. Mendel kritisierte, dass es seit Januar, als das Kuratorenkollektiv Ruangrupa erstmals mit Antisemitismusvorwürfen konfrontiert wurde, nicht möglich gewesen sei, „darüber zu reden“.

Deutschland müsse sich seiner postkolonialen und auch antisemitischen Geschichte stellen, forderte Dhawan, eine „Geschichte der Scham“. Zum Thema Freiheit der Kunst sagte sie, es sei ein Dilemma, Ethik, Ästhetik und Politik überein zu bringen. Im Zeitalter der Aufkläung habe es gehießen: „Zensur ist Faulheitspolitik“.

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