Ausstellung der Bonner Bundeskunsthalle Goethes Dichterleben für den Faust
Bonn · Mit einer Serie begleitet der GA die aktuelle Ausstellung der Bonner Bundeskunsthalle. Diese Folge behandelt die Welt der Moderne: „Faust. Eine Tragödie“.
Es war der 29. August 1829. In Weimar wurde zum ersten Mal „Faust“ gegeben, eine „Tragödie in acht Abteilungen von Goethe“. Anfang um 6 Uhr, Ende nach 9 Uhr hieß es auf dem Theaterzettel. Für einen Platz auf dem Balkon musste der Theatergänger 16 Groschen bereithalten, für die Galerie lediglich vier Groschen. Herr Durand verkörperte den Faust, Demoiselle Lorzing Margaretha, ein Bürgermädchen. Der Autor war nicht anwesend. Am 29. August 1829 schrieb er in sein Tagebuch: „Abends allein. Aufführung von ‚Faust‘ im Theater.“
171 Jahre später, in Hannover. Peter Stein inszenierte für das Expo-Programm der niedersächsischen Landeshauptstadt den ganzen „Faust“, alle 12 111 Zeilen zuzüglich mitdeklamierter Regieanweisungen. Beginn der Premiere von „Faust I“: am Samstag um 15 Uhr. Ende nach acht Stunden Theaterarbeit. „Faust II“ folgte am darauffolgenden Sonntag. Beginn um 10 Uhr. Ende nach 14 Stunden.
Nach Hannover kamen Berlin und Wien in den Genuss der Maßstäbe setzenden, die Aufnahmefähigkeit des Publikums fordernden Produktion. In Erinnerung blieb sie vor allem wegen der Länge.
Die Ausstellung in der Bundeskunsthalle „Goethe. Verwandlung der Welt“ erinnert an diese beiden Versuche, Goethes Werk auf die Bühne zu bringen. Weimar dokumentiert der historische Theaterzettel von 1829, Hannover, Berlin und Wien ein Plakat. Es ist Teil einer 27-teiligen Plakatwand, ein Blickfang im edel anmutenden „Faust“-Raum der Bonner Schau.
Es macht Spaß, sich mit den Ausstellungsstücken zu beschäftigen. Mit Aleksandar Denics Bühnenbildmodell zur „Faust“-Inszenierung von Frank Castorf 2017 an der Volksbühne Berlin zum Beispiel. Die Inszenierung dauerte gut sieben Stunden. Es gab Videohöhlen, Musik und Kolonialismuskritik.
Anna Viebrocks Bühne für Christoph Marthalers „Faust“ 1993 am Schauspielhaus Hamburg erlaubt Assoziationen an eine psychiatrische Anstalt. Alfred Roller nutzte 1909 für Max Reinhardts „Faust“ am Deutschen Theater Berlin wirkungsvoll die Möglichkeiten der Drehbühne.
Wir sind in Bonn, also denkt der Besucher automatisch an Alice Buddebergs Goethe-Inszenierung 2015 in den damaligen Kammerspielen Bad Godesberg. Die Bühnenbildnerin Cora Saller hatte das Faust-Zimmer wie einen offenen Container gestaltet. Er hing an Stahlseilen im Raum, konnte sich nach oben und unten bewegen, bisweilen schwankte er hin und her. Fausts Welt war in Bewegung. Sein Raum war Maleratelier, Matratzengruft, Kerker und psychiatrisches Krankenzimmer zugleich. Das passte, denn Faust, der Philosophie, Juristerei, Medizin und Theologie studiert hat, ist wie viele von Goethes männlichen Helden ein gebrochenes Individuum.
Der Regisseur Nicolas Stemann hat das Thema des Stückes in einem Satz zusammengefasst: „Ein frustrierter Gelehrter in der Midlife-Crisis fällt die Entscheidung, ab jetzt ein Arschloch zu werden, und in der Folge geht er in 'ne Kneipe, nimmt Drogen und verführt das Nachbarsmädchen, geht auf 'ne Superparty – daraus entwickelt Goethe das Drama der Moderne.“ Nachsatz des Regisseurs: „Das muss man erst mal hinkriegen.“
Die Schriftstellerin Thea Dorn hält Faust für den Prototyp des modernen, ewig unzufriedenen Menschen. Ein Opfer der Sucht Fausts nach Selbstverwirklichung ist Gretchen. Faust, der nach Einnahme eines Zaubertranks „Helenen in jedem Weibe“ sieht, verführt, schwängert und verlässt sie. Ihr Schicksal scheint ihm gleichgültig. Die Frau, die sündigt, weil sie liebt, die Mutter und Kind tötet und im Gefängnis landet, müsste ihn eigentlich verabscheuen. Doch Gretchen liebt, und sei es auch ohne Chance auf Gegenliebe. Ihr Monolog am Spinnrad („Meine Ruh' ist hin / Mein Herz ist schwer“) drückt in nur 40 Versen alles aus, was man über die Liebe wissen muss.
Der Besuch in der Bundeskunsthalle erlaubt natürlich nur einen flüchtigen Einblick in Goethes „Faust“-Universum. Wer alles erfahren will, muss zu Büchern des Göttinger Germanisten Albrecht Schöne und des Bonner Gelehrten Manfred Osten greifen. Die Ausstellung arbeitet mit originellen Mitteln. Sie präsentiert etwa eine audiovisuelle Parallelmontage. Einer von drei Bildschirmen zeigt Will Quadflieg, der 1957/58 in Hamburg den hohen Ton deutschsprachiger Bühnenkunst pflegte. Im Staatstheater Schwerin 1979 wurde hingegen ein neutraler Alltagston hörbar und eine ganz andere sinnliche und physische Präsenz offenbart als zu Quadfliegs Zeiten. Michael Thalheimer inszenierte den „Faust“ 2004 am Deutschen Theater in Berlin. Auf Gretchens Frage „Glaubst du an Gott?“ bekommt Faust einen Schreianfall, der den Kopfhörer des Ausstellungsbesuchers zu sprengen droht: „Mein Liebchen, wer darf sagen: / Ich glaub an Gott? / Magst Priester oder Weise fragen, / Und ihre Antwort scheint nur Spott / Über den Frager zu sein.“
Ernst Rietschel hat das Goethe-Schiller-Denkmal in Weimar geschaffen. Für eine politische Aktion waren die beiden deutschen Klassiker 2014 um eine plakative Sprechblase bereichert worden: „Faust hoch gegen Nazis“. Das hätte sich der Dichter, der jahrzehntelang am „Faust“ arbeitete, gewiss nicht träumen lassen.
Goethes Biograf Richard Friedenthal fasste das gewaltige literarische Unternehmen des Autors salopp zusammen: „Den Urfaust schrieb er als fünfundzwanzigjähriger Jüngling, den Ersten Teil der Tragödie als Mann von fünfzig, den Zweiten Teil als Greis, um es summarisch zu sagen.“