Wiederaufbauprojekt für Aleppo Heilende Effekte im Souk

BONN · Das umkämpfte Aleppo im Nordwesten Syriens liegt in Trümmern. Doch in der ungarischen Hauptstadt Budapest arbeiten ehemalige Bewohner Aleppos mit Planungsexperten schon am Wiederaufbau der 5000 Jahre alten Metropole.

 Dichter Rauch verdunkelt den Himmel über zerstörten Gebäuden der nordsyrischen Stadt Aleppo.

Dichter Rauch verdunkelt den Himmel über zerstörten Gebäuden der nordsyrischen Stadt Aleppo.

Foto: picture alliance / dpa

Über Aleppo fallen Bomben, über Budapest fällt Schnee. Zwischen den beiden Städten liegen 1947 Kilometer und eine hellblaue Website, die die scheinbar unvorstellbare Frage stellt: Wenn der Krieg morgen endet, wie soll Aleppo wiederaufgebaut werden?

„Je früher wir uns Gedanken darüber machen, umso besser ist das später für die Stadt. Wir brauchen fertige Konzepte, wenn es losgeht“, sagt der Exil-Aleppiner AlHakam Shaar vom Institut für Konfliktforschung (CCNR) an der Central European University in der ungarischen Hauptstadt Budapest.

Der 29-Jährige ist einer der vier Köpfe hinter der hellblauen Website, dem Ergebnis eines multidisziplinären Projekts, in dem Aleppos Bürger – vor allem jene, die aus ihrer nordsyrischen Heimatstadt geflüchtet sind – im Zentrum stehen.

Sie sollen ihre Wünsche und Visionen zum Wiederaufbau deponieren, Umfragebögen von Stadtplanern beantworten, Kommentare einsenden, auf interaktiven Stadtkarten Bilder pinnen. Noch steht das vor drei Monaten gestartete Projekt am Beginn, doch bereits jetzt lassen sich einige Trends ablesen.

„Ebenso wie Aleppiner wissen, was sie wollen, wissen sie, was sie nicht wollen. Zum Beispiel gibt es einige Gebäude des syrischen Geheimdiensts, die im Krieg zerstört wurden – die will man keinesfalls wiederaufgebaut wissen. Diese Bauten sind Symbole für Folter und Entsetzen“, erzählt Shaar von einer unter 1001 Aleppinern durchgeführten Umfrage. „Dagegen ist ihnen die Wiederherstellung der kulturhistorischen Denkmäler sehr wichtig. Das hat für sie viel mit Identität zu tun.“

2012 aus Aleppo geflohen, gehört Shaar neben dem 26-jährigen Armenak Tokmajyan zu den zwei Aleppinern des Projekts, das vom neuseeländischen Konfliktforscher Robert Templer, Direktor des CCNR an der Central European University, ins Leben gerufen wurde. Jetzt sitzt der rotbärtige Neuseeländer neben dem braunbärtigen Shaar und der amerikanischen Kollegin Meghan Moore im Arbeitsraum Nr. 206 des Budapester Instituts.

Papiertürme auf dem Schreibtisch, ein paar übergeworfene Krawatten am Kleiderständer, in der Ecke eine zusammengerollte Landkarte. Das ist die Zentrale des „Aleppo-Projekts“, in der die hoffnungsreichen Visionen von Aleppinern zusammenlaufen, aber auch deren Dokumente zur Vergangenheit und zur Gegenwart der Stadt gesammelt werden.

Ziel ist die Schaffung einer umfassenden Wissensdatenbank, die künftig als Basis für den Wiederaufbau herangezogen werden kann. Dieser wiederum könne nur mit der Beteiligung der Bewohner gelingen, ist Robert Templer überzeugt.

Der neuseeländische Konfliktforscher hat sich mit der Geschichte anderer Kriegsstädte beschäftigt und kam zu dem Schluss, dass Erfolg oder Misserfolg eines Wiederaufbaus unmittelbar davon abhängt, inwieweit die Bevölkerung einbezogen ist. „Wenn man sich die gescheiterten Beispiele anschaut, findet man einen gemeinsamen Faktor: Überall dort, wo die Stadtbewohner nicht mitreden durften, ist es daneben gegangen – ob Beirut oder Sara-jewo, ganz zu schweigen von Kabul.“

Doch neben der Beteiligung von Bürgern braucht es auch Experten aus den unterschiedlichsten Disziplinen: Wie kann man so bauen, dass ethnisch-konfessionelle Spannungen abgefedert werden? In welcher Prioritätensetzung soll man was zuerst aufbauen? Wer entfernt das Geröll zerstörter Gebäude, und wo soll dieses abgeladen werden? Und was, wenn sich darunter unentschärfte Granaten oder toxischer Müll befinden?

Ist ein Krieg zu Ende, tun sich zeitgleich Dutzende Fragen auf. Deshalb hat man in Budapest begonnen (parallel zur Befragung von Aleppinern), ein Netz an Stadtplanern, Architekten, Politikwissenschaftlern und Konfliktforschern aufzuspannen, die das benötigte fachliche Unterfutter erarbeiten.

Open collaboration heißt das Prinzip, sprich: Hier ist jeder, vom Professor bis zum Flüchtling, mit seinem Wissen willkommen. Und jene Syrer, die Aleppo einmal wiederaufbauen werden, sollen künftig über die blaue Website thealeppoproject.com auf das Datenmaterial zugreifen können. „Eine Garantie, dass es dann tatsächlich verwendet wird, haben wir allerdings nicht“, sagt Templer, und besonders glücklich sieht er bei diesem Gedanken nicht aus.

Von wirklichem Wiederaufbau ist derweil weit und breit keine Spur. Noch ist der frühere wirtschaftliche Nabel Syriens bitter umkämpft. Die blutige Frontlinie zwischen Regierungstruppen und Rebellen verläuft quer durch die Stadt. Allein das historische Zentrum und Weltkulturerbe ist nach UN-Schätzungen zu 60 Prozent zerstört. Und keine 15 Kilometer entfernt wehen die ersten schwarzen Fahnen des IS. Sind da Wiederaufbauprojekte bei allem Optimismus nicht verfrüht?

Nein, glauben mittlerweile erstaunlich viele. Denn unabhängig vom Budapester Projekt haben sich immer mehr Initiativen formiert, um für die Stunde Null vorzusorgen: Von Beirut und dem UN-Projekt National Agenda for the Future of Syria bis nach Berlin zum deutsch-syrischen Archäologen Mamoun Fansa, dem Deutschen Archäologischen Institut oder der Brandenburgischen Technischen Universität in Cottbus – betriebsam wird an Plänen für das Morgen gearbeitet. Die Projektziele sind unterschiedlich, der Ansatz ist identisch: Bereit sein, wenn es losgeht.

Ein schwieriges Unterfangen in Syrien, zumal es dort neben dem Wiederaufbau von Gebäuden vor allem um den Wiederaufbau einer zerrissenen Bürgerkriegsgesellschaft geht. Das Budapester Team ist sich des Spagats bewusst und will das eine durch das andere beeinflussen.

Ein wesentlicher Faktor, sagen sie, sei das gezielte Vermischen der Bevölkerungsgruppen. Etwa durch das Zusammenspannen verschiedener Nachbarschaften in gemeinschaftlichen Wiederaufbau-Projekten, oder durch den Bau von Orten, in denen die Leute auf natürliche Weise vermischt werden.

Templer nennt ein Beispiel: „Bagdad ist geteilt in ethnische Enklaven, die durch hohe Betonmauern voneinander abgeschottet sind. Wenn man aber allein schon physisch komplett voneinander getrennt ist, wird es unheimlich leicht, sich das Schlimmste über den jeweils anderen auszumalen.“

Die Schlussfolgerung für Aleppo laute daher: Jene Orte wiederherstellen, die die unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen zusammengebracht haben. Den 2012 zerstörten historischen Souk etwa, wo „der eine hingegangen ist, um Gemüse zu kaufen, der andere, um ein Vermögen für Gold auszugeben – unabhängig von Herkunft, Ethnie, Konfession oder Weltanschauung. Solche Orte haben einen heilenden Effekt auf gespaltene Gesellschaften.“

Von der Heilung seines Landes träumt auch der 13-jährige syrische Schüler Mohammed Qutaish in Aleppo. Vermutlich kennt er weder das Wiederaufbau-Projekt aus Budapest noch die anderen internationalen Initiativen zu seiner Heimatstadt. Er hat sich aber im Vorjahr selbst seine Gedanken zur Zukunft gemacht und in der Werkstätte seines Vaters aus Pappe und Papier eine riesige Modellstadt eines künftigen Aleppo gebaut.

Architekt wolle er einmal werden, sagt er in die laufende Kamera eines britischen Fernsehteams. „Diese Gebäude aus Karton sollen eines Tages Wirklichkeit werden.“ Dann schwenkt die Kamera auf einen kleinen Zettel, den der 13-Jährige an die Wand geklebt hat. „Die anderen zerstören, wir bauen wieder auf“, hat er auf den Zettel geschrieben.

Drei Flugstunden von Mohammed entfernt sitzt der rotbärtige Neuseeländer Templer in Budapest und sagt einen sehr ähnlichen Satz. „Aleppo wurde in seiner mehrtausendjährigen Geschichte schon mehrfach zerstört, aber jedes Mal wiederaufgebaut. Bisher ist diese Stadt noch immer zurückgekommen.“

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