Referendum in der Türkei „Ich habe Angst, dass es zum Bürgerkrieg kommt“

Bonn/Rhein-Sieg-Kreis · An diesem Sonntag fällt die Entscheidung in der Türkei über die Verfassungsänderung. GA-Chefreporter Wolfang Kaes hat mit vier Menschen mit türkischen Wurzeln gesprochen – über das Leben im Rheinland, ihre Sorgen und Befürchtungen mit Blick auf die Türkei und was für sie Heimat bedeutet.

 Wir hätten sie gerne im Foto gezeigt. Wenn sie strahlt, dann strahlt der ganze Laden. Mit ihrer Art, den Menschen zu begegnen, zaubert sie selbst der mürrischsten teutonischen Kundschaft ein Lächeln ins Gesicht, mit ihrem Lachen flutet sie den Raum. Wir nennen sie der Einfachheit halber Ela. Ihren wahren Namen möchte sie lieber nicht sagen. Was die Frau ansonsten zu sagen hat, passt so gar nicht zum schlichten Schwarz-Weiß, das sich derzeit im politischen Denken Bahn bricht und alle Zwischentöne verbannt.

Ela ist 37, hat zwei Kinder, die in Deutschland geboren wurden, und betreibt mit ihrem Mann einen Gemüse- und Lebensmittelladen in Remagen. „Ich versuche, positive Energie an meine Umwelt zu geben. Dann kriegt man auch positive Energie zurück. Damit zeige ich den Menschen: Seht her, ich bin eine nette Person, also braucht ihr mich nicht so komisch anzugucken.“ Ela trägt Turnschuhe, Jeans – und Kopftuch. „Ich komme aus einer westlich orientierten Familie. Kopftuch trage ich erst seit 13 Jahren; seit ich begonnen habe, mich für Religion zu interessieren. Niemand hat mich dazu gezwungen.“ Wer Ela im Dialog mit ihrem Mann erlebt, der verfällt auch gar nicht erst auf den Gedanken, dass sie sich zu irgendetwas zwingen lassen könnte.

Ela (37): „Mit dem Theater um die Minister-Auftritte in Deutschland und Holland hat Erdogan seinen hier lebenden Landsleuten keinen Gefallen getan."

Elas Familie stammt aus Ostanatolien, nahe der irakischen Grenze. „Wir sind aber keine Kurden!“ Auf die Feststellung legt sie Wert. Nicht dass sie etwas gegen die Kurden hätte, versichert sie. „Wir sind ja mit denen zusammen aufgewachsen. Und das Wort PKK habe ich zum allerersten Mal gehört, da lebte ich schon in Deutschland. Aber das Verhältnis ist im Moment schwierig.“

Und das Verhältnis zu Deutschland? „Mit dem Theater um die Minister-Auftritte in Deutschland und Holland hat Erdogan seinen hier lebenden Landsleuten keinen Gefallen getan. Diese Stimmung müssen wir doch jetzt ausbaden.“

Das Gespräch wird unterbrochen, die deutsche Kundin sucht in den Regalen vergeblich nach Jacobs Krönung. „Ist aus, Schatzi. Kommt nächste Woche wieder. Nimm solange den hier.“ Nicht wenige Stammkunden werden „Schatzi“ oder „Liebchen“ genannt. Alle paar Minuten winkt Ela durch die offene Ladentür Passanten auf der Straße zu, die winken fröhlich zurück. „Wir hatten noch nie Ärger hier. Auch meine Kinder nicht, weder im Kindergarten noch in der Schule. Wir befolgen die deutschen Regeln. Wir zahlen unsere Steuern und so weiter. Ich sage meinen Leuten immer: Wir leben hier, aber das Land gehört uns nicht.“

An der Theke ringen zwei Nordafrikaner mit ihrem rudimentären deutschen Vokabular, bis dank Elas eifriger Unterstützung das richtige Wort gefunden ist: Die beiden wollen Maismehl. Ela lacht. „Die sprechen normalerweise arabisch. Das muss ich wohl jetzt auch noch lernen.“ Vor 26 Jahren folgte sie ihren Eltern nach Deutschland. Sie wäre damals lieber in der Türkei geblieben. Aber es gibt Dinge, die sind nun mal nicht zu ändern.

Was ist heute Heimat für sie? „Schwierige Frage. Ich bin Rheinländerin. Manchmal habe ich Heimweh. Wenn ich aber zu Besuch in der Türkei bin, dann habe ich bald wieder Heimweh nach hier.“ Ihre beiden Kinder fühlen sich hier zu Hause, mögen es aber, die Verwandten in der Türkei zu besuchen. „Die Herzlichkeit, das Zeit haben, ohne Stress, ohne Hektik, das lieben sie, das fehlt hier oft. Aber als das Fußballspiel Deutschland-Türkei war, das haben wir damals in der Türkei zusammen mit den Verwandten im Fernsehen geguckt, da hat mein kleiner Sohn die ganze Zeit nur Deutschland angefeuert.“

Wie steht sie zum Referendum? „Ich bin nicht wählen gegangen.“ Warum nicht? „Weil ich mich entschieden habe, nicht wählen zu gehen.“ Basta. Damit steht sie vermutlich nicht ganz alleine: Vor zwei Jahren beteiligte sich deutlich weniger als die Hälfte der rund 1,4 Millionen Stimmberechtigten in Deutschland an der Wahl zum türkischen Parlament, auch wenn vermutet wird, dass die Wahlbeteiligung beim Referendum deutlich höher liegt. Weil wesentlich mehr auf dem Spiel steht. Ela ist unsicher, was richtig ist, was das Beste ist für die Türkei. „Ich sage Ihnen nur: Was die deutschen Medien jetzt über die Türkei schreiben, ist meistens übertrieben.“

Hat sie sich „Reis“ im Kino angeschaut, den türkischen Spielfilm über Recep Tayyip Erdogan? „Nein. Den werde ich mir auch nicht ansehen. Da wird Erdogan als perfekter Mensch dargestellt. Aber kein Politiker ist perfekt. Politiker sind fast immer Lügner, überall auf der Welt. Und wir sind deren Marionetten.“ Dann wird die fröhliche Frau überraschend ernst: „Aber für meine Fahne würde ich kämpfen. Für mein Vaterland wäre ich jederzeit bereit zu sterben.“

Yalcin Kumtepe (46): "Für diesen Mann ist Demokratie kein politisches Ziel, sondern nur ein Vehikel zur Erringung vollständiger Macht."

Yalcin Kumtepe, der schräg gegenüber von Elas Laden in der Fußgängerzone ein Geschäft für Schmuck und Armbanduhren betreibt, hat keine Scheu, seinen Namen veröffentlicht zu sehen: „Wir leben hier in einem freien Land.“ Der 46-Jährige ist seinen Eltern 1982 nach Deutschland gefolgt. Geboren wurde er in der ostanatolischen Provinz Igdir, zwischen der iranischen Grenze im Süden und der armenischen Grenze im Norden. „Ich bin kein Kurde und kein PKK-Anhänger. Schreiben Sie das bitte!“ Warum? „Weil Erdogan doch immer behauptet, alle Gegner seiner Politik seien PKK-Anhänger.“

Yalcin Kumtepe war noch nie ein Anhänger Erdogans: „Für diesen Mann ist Demokratie kein politisches Ziel, sondern nur ein Vehikel zur Erringung vollständiger Macht. Das hat er schon früh öffentlich gesagt. Das kann man sich sogar auf Yotube anschauen. Was für ein Hohn: Von Deutschland fordert er Demokratie ein, und in der Türkei schafft er sie gerade ab.“

Der Juwelier hat von seinem Wahlrecht Gebrauch gemacht, um gegen Präsident Erdogans Pläne zu stimmen. „Ich weiß nicht, was passiert, wenn er noch mehr Macht bekommt. Aber bei Hussein, bei Khomeini, bei Gaddafi hat man gesehen, was dann passiert: Sie hören auf keine Ratschläge mehr, sind immun gegen Kritik, sie umgeben sich nur noch mit Leuten, die ihnen nie widersprechen und stattdessen ständig applaudieren.“ Die gesamte Wirtschaft seines Heimatlandes sei von Korruption durchdrungen, ist Yalcin Kumtepe überzeugt: „Nur alleine mit Leistung kommt man in der Türkei nicht weit.“

Der 46-Jährige schätzt, dass eine knappe Mehrheit die Verfassungsänderung ablehnt. „Aber ob die Stimmen korrekt ausgezählt werden, das weiß ich nicht.“ Die in Deutschland lebenden Türken, so mutmaßt er, haben hingegen mehrheitlich für Erdogan gestimmt. „Wer keine Bücher und keine Zeitungen liest, sondern sich nur im türkischen Fernsehen informiert, der ist mit Sicherheit für Erdogan.“

Die große Mehrheit der in Deutschland lebenden türkischen Migranten stammt nicht aus den europäisch orientierten Metropolen wie Istanbul oder Izmir, sondern aus den armen, ländlichen Provinzen Anatoliens. Warum in Deutschland ausgerechnet so viele junge Männer mit türkischen Wurzeln Erdogans Pläne unterstützen, lässt sich nach Expertenmeinung eher psychologisch als politisch erklären:

Nicht selten empfanden die Söhne ihre leiblichen Väter als ohnmächtige Verlierer, als unsichtbare Duckmäuser, der deutschen Sprache kaum mächtig, dem fremden System, zum Beispiel bei Behördengängen, hilflos ausgeliefert, als Fließbandarbeiter oder Müllmänner zwar so eben in der Lage, ihre Familien zu ernähren, nicht aber den glitzernden Verheißungen des deutschen Werbefernsehens gerecht zu werden.

Die Erniedrigung des Vaters sei eine fundamentale Kränkungserfahrung, da sie den Söhnen die Möglichkeit nehme, ihn zu idealisieren und sich mit ihm zu identifizieren. Erdogan hingegen bietet sich den Enttäuschten als omnipotenter Ersatzvater an, der alle erlittenen Demütigungen vergessen lässt. Er verspricht seinen Anhängern, Teil seiner Großmachtfantasien zu werden und sich damit groß, stark und stolz fühlen zu dürfen.

Die Verehrung Erdogans erinnert frappierend an den Personenkult um Mustafa Kemal Atatürk, auch wenn der ebenso segensreiche wie autoritäre Republik-Gründer vor fast 100 Jahren eine völlig andere politische Agenda vertrat: Atatürk drängte mit der Abschaffung des Kalifats und des Sultanats den Einfluss der Religion auf die türkische Gesellschaft zurück, führte die allgemeine Schulpflicht ein, schuf ein weltliches Rechtssystem nach europäischem Vorbild und damit deutlich mehr Rechte für Frauen. Atatürk katapultierte die Türkei aus dem Feudalismus ins 20. Jahrhundert.

Dilek (47): „Erdogan wird ein mehrheitliches Nein nicht akzeptieren."

Die 47-jährige Dilek (Name geändert) sorgt sich um ihre in der Türkei lebenden Eltern. Dilek ist Mediengestalterin, gibt nebenbei Computerkurse an einer Schule in Sankt Augustin und wohnt mit ihrem deutschen Mann, ihrer 13-jährigen Tochter und ihrem elfjährigen Sohn in Bonn. Dilek wurde nicht in der Türkei, sondern in Düsseldorf geboren. Ihre Eltern waren erst kurz vor ihrer Geburt ausgewandert; aus Tire, einer Kleinstadt in der Nähe von Izmir. „Mein Vater, ein gelernter Schneider, war in der Türkei als Gastarbeiter angeworben worden und hat dann hier 30 Jahre als Straßenbahnfahrer gearbeitet.“

Ihre Mutter, ebenfalls gelernte Schneiderin, arbeitete zunächst in einer Wäscherei und machte dann ihre eigene Änderungsschneiderei auf. „Nach Feierabend half ihr mein Vater. Meine Eltern waren immer sehr fleißig und haben hart gearbeitet, so dass sie nun keine materiellen Sorgen mehr haben müssen. Sie sind immer türkische Staatsbürger geblieben. Vor 15 Jahren sind sie als Rentner zurück in ihre Heimat gegangen. Um ihren wohlverdienten Ruhestand zu genießen.“

Gewöhnlich besucht Dilek jeden Sommer mit Mann und Kindern die Eltern in der Türkei. Dann ereignete sich im vergangenen Sommer der Putsch, und sie verschob den Besuch auf den Herbst. „Als wir abreisten, hatte ich so ein merkwürdiges Gefühl, als sähe ich sie zum letzten Mal. Ich sagte ihnen noch: Tragt immer eure Pässe bei euch.“ Was bereitet ihr solche Angst? „Erdogan wird ein mehrheitliches Nein nicht akzeptieren. Entweder wird das Ergebnis manipuliert, oder er wird einen anderen Weg finden, seine Pläne durchzusetzen. Ich habe Angst, dass es dann zu einem Bürgerkrieg kommt.“ Aber wenn der Militärputsch misslungen ist, wie soll ein Bürgerkrieg funktionieren? „War das ein Putsch? Viele sagen, das war von Erdogan inszeniert, um seine Gegner loszuwerden.“

Dileks Eltern sind zwar religiös – „aber mehr im Privaten“, sagt die 47-Jährige. „Sie haben mich nie zu etwas gezwungen, mir nie ihren Glauben aufgedrängt.“ Dilek hat auch nie ein Kopftuch getragen. „Auch meine Mutter hat kein Kopftuch getragen. Waren Sie schon mal in Izmir? Das ist wohl die modernste Stadt der Türkei. Die jungen Leute machen Party, das Nachtleben ist legendär, die Frauen tragen sehr modische und körperbetonte Kleidung, dagegen ist Bonn schon Provinz. Erdogan wird dafür sorgen, dass alle Frauen in der Türkei wieder verschleiert sein müssen, dessen bin ich mir sicher. Alles wird kommen, was wir aus anderen islamischen Ländern kennen: Zwangsverheiratung, Kinderehen. Erdogan wird auch die Todesstrafe einführen. Glauben Sie mir!“

Schon bei den Besuchen in der Türkei in den vergangenen Jahren hat sie Veränderungen festgestellt. „Zum Beispiel gehen immer mehr Frauen komplett verhüllt im Meer baden. Jetzt gibt es dort auch schon sogenannte islamische Neubausiedlungen.“ Auch in Deutschland beobachtet sie schleichende Veränderungen: „Immer mehr junge Frauen, die Kopftuch tragen. Inzwischen macht mich das regelrecht aggressiv. Da bin ich im Lauf der Jahre radikaler geworden. Früher war ich deutlich toleranter und sagte mir: Jeder soll doch so leben, wie er möchte. Heute denke ich manchmal: Sind unsere deutschen Gesetze zu liberal? Ich finde es gut, dass Sport und Schwimmen in Deutschland verpflichtend zum Schulunterricht gehören. Und genau deshalb sollte es keine Befreiungen aus religiösen Gründen geben.“

In der Heimatstadt ihrer Eltern kennt jeder Bewohner mindestens einen Menschen, der aus fadenscheinigen Gründen inhaftiert wurde. Andere haben aus reiner politischer Willkür ihren Job verloren. Und wieder andere brauchen sich um ihre Jobs keine Sorgen mehr zu machen, weil sie Mitglied in Erdogans Partei AKP sind.

„Wenn ich mit meinen Verwandten in der Türkei übers Internet kommuniziere, traue ich mich kaum noch, sie zu fragen, wie es ihnen tatsächlich geht. Weil ich sie nicht in Verlegenheit bringen will. Jeder hat dort inzwischen Angst, seine Meinung zu sagen. Dieser Erdogan ist in meinen Augen psychisch krank. Es geht ihm nur um sich selbst. Ein Größenwahnsinniger.“

Ata (18): „Eigentlich hatte ich vor, nach dem Abi mal für längere Zeit nach Istanbul zu gehen."

„Ich würde niemals in der Türkei meine politische Meinung äußern“, sagt Ata (Name geändert). Nicht, dass der 18-jährige Abiturient aus Beuel ein besonders ängstlicher Mensch wäre. Er war auch während der gewaltsam niedergeschlagenen Taksim-Proteste 2013 in Istanbul – der Stadt, in der er die ersten vier Jahre seines Lebens verbrachte, in der sein türkischer Vater immer noch als Arzt praktiziert. Die Stadt an der Nahtstelle zwischen Okzident und Orient, die er mehrere Male im Jahr während der Schulferien jeweils für Wochen besucht, weil sie ihm ans Herz gewachsen ist. „Ich spreche auch in Deutschland nicht mehr mit Türken über Politik. Weil ein sachlicher Austausch von Argumenten nicht mehr möglich ist. Jede Diskussion wird gleich sehr heftig und sehr persönlich. Die türkische Gesellschaft ist völlig zerrissen.“

Ata vermutet, dass sehr viele in Deutschland lebende Türken Erdogan-Anhänger sind. Er nennt auch einen Grund: „Diese Menschen werden in Deutschland wie Türken behandelt, aber in der Türkei wie Deutsche. Überall sind sie Fremde, nirgendwo gehören sie richtig dazu. Aber sie sehnen sich danach, sich als Teil einer Gemeinschaft fühlen zu dürfen. Dieses Angebot macht ihnen jetzt Erdogan.“

Für einen 18-Jährigen wirkt Ata sehr ernst und sehr erwachsen. „Eigentlich hatte ich vor, nach dem Abi mal für längere Zeit nach Istanbul zu gehen. Weil ich die Sprache nicht mehr ganz flüssig spreche.“ Und jetzt? „Weiß nicht. Alles löst sich auf. Mein Vater will nach Griechenland auswandern, mein Onkel nach Prag, mein Halbbruder will sein Maschinenbau-Studium in Deutschland beenden. Und nach Istanbul werden Busladungen mit AKP-Anhängern aus dem Osten gekarrt, damit sie dort demonstrieren und so der Welt zeigen, dass auch Istanbul auf der Seite Erdogans steht.“

Ata hat so wie seine Mutter einen deutschen Pass. „Und ich fühle mich als Deutscher. Trotzdem ist die Türkei ein Teil von mir.“

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort