Buchtipp Im Augenblick des Vergehens

Bonn · Der schottische Schriftsteller John Burnside schreibt in seinem neuen Buch über die Schönheit des Moments.

 John Burnside (Mitte) bei der Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden in Köln.

John Burnside (Mitte) bei der Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden in Köln.

Foto: Guenther Meisenberg

Die Schönheit traf ihn wie ein Schlag. John Burnside, damals zehn oder elf Jahre alt, hörte mit seiner Mutter in der Küche Radio. Lisa della Casa sang Richard Strauss‘ Lied „Beim Schlafengehen“, „einzig, um mich vor Staunen still werden zu lassen, eine Stille, aus der ein Teil meiner Seele bis heute nie wieder ganz aufgetaucht ist“. Denn in der sterbenden schottischen Bergarbeiterstadt, in der der Knabe unter seinem jähzornigen Vater litt, wäre ihm nie eingefallen, „dass von Menschen Geschaffenes so schön sein kann“.

Sengende Intensität

Ein magischer Augenblick, und um den geht es in Burnsides Buch „What light there is – Über die Schönheit des Moments“. Gewiss, das Strauss-Lied kann man auf CD immer wieder hören, doch die sengende Intensität der ersten Begegnung wird sich nie wieder einstellen. Mehr noch: Das stärkste Erlebnis verspricht „der Moment im Augenblick des Vergehens“. Genauer: „Der Moment war vorbei, ehe irgendwer von uns ihn ergreifen konnte, und doch blieb er, während er uns zwischen den Fingern zerrann, lebendig, kaum noch da und zugleich unauslöschlich.“

Der schottische Romancier und Lyriker nennt Beispiele. Den mit einer Unbekannten getauschten Blick, bevor beide für immer ihrer Wege gehen. Oder einen besonders anrührenden Einklang von Kunst und Erlebnis. So ging es dem Autor, als er in Venedig Joseph Brodskys „Ufer der Verlorenen“ las. „Un ange passe“, ein Engel geht vorbei – für Burnside ist dies „ein winziges Schlupfloch im Gewebe des Tages“, ein Wink aus einer anderen Welt.

Solcher Sekundenzauber führt unmittelbar zur Endlichkeit, zum Tod. Als Kind genoss Burnside das Schwimmen in den Flüssen seiner Heimat, aus denen freilich Jahr für Jahr zahlreiche Leichen geborgen wurden. Doch interessiert ihn eben nicht der banale Schlussstrich unter das Leben, sondern das, was man „ars moriendi“ nennt, die Kunst zu sterben. Im Mittelalter verstand man darunter Erbauungsliteratur, die den von Pest und Kriegen Bedrohten beistehen sollte.

Körperlicher Verfall

So einfach ist es hier nicht, denn die Gedanken des Autors mäandern, folgen ganz eigenen Assoziationsfäden. Das Altern? Einerseits unendlich langsam, doch wie schnell hat man beinahe schon jenes Stadium körperlichen Verfalls erreicht, „den eigentlich doch nur andere Leute durchmachen sollten“. Das Sterben? Gewiss nicht einfach, doch irgendwie fasziniert ihn diese vieldeutig „offenstehende Tür“, die auf eine Obstwiese oder ein verlockendes Irrlicht hinführen könnte.

Man wird Burnside wie in „I put a spell on you – Von Liebe und Magie“ nicht überall folgen können, muss man aber auch nicht. Man darf sich getrost diesem wild strudelnden Gedankenfluss überlassen, aus dem immer wieder traumschöne Bilder, kühne Ideen und eindrucksvolle Geschichten und Zeitzeugnisse auftauchen. Etwa Robert Falcon Scotts Tagebuch von der grimmig gescheiterten Südpol-Expedition von 1912. Oder Richard Avedons Porträtserie seines sterbenden Vaters. Und nicht zuletzt: die alte Ballade von „Barbara Allen“, in der die Liebenden die irdische Welt verlassen, um so „ihren Zustand für immer in der Ewigkeit des Augenblicks festzuschreiben“.

Schmerzliche Schönheit, da­rüber schreibt kaum jemand so unwiderstehlich wie dieser Mann.

John Burnside: What light there is – Über die Schönheit des Moments. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Haymon Verlag, 172 S., 19,90 Euro.

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