Buchtipp Javier Marías neuer Roman ist ein Anti-Bond

Javier Marías Agentenroman erzählt aus einer ungewöhnlichen Perspektive heraus. Bertas Verstörung nach der Selbsttäuschung, ihre düsteren Fantasien sind brillant geschildert

Es geht heiß her im Europa des Jahres 1969. Zwei Trends haben insbesondere die jungen Leute im Griff: „Die Politik und der Sex“. Das schreibt jedenfalls der Autor Javier Marías in seinem neuen Roman „Berta Isla“. Die Jugend ist hin- und hergerissen zwischen der 68er Revolte und dem Prager Frühling, zwischen Kaltem Krieg und freier Liebe. Berta Isla zum Beispiel gerät in eine Demo in Madrid, die nach dem gewaltsamen Tod eines Jurastudenten im Gewahrsam von Francos gefürchteter Brigada Político-Social die Menschen auf die Straße treibt – und vor die Knüppel der berittenen „Grauen“. Gerettet wird sie von einem Banderillero; das junge Paar endet im Bett.

Bertas Verlobter Tomás Nevinson weilt derzeit sexuell nicht minder experimentierfreudig zum Studium in Oxford, beginnt eine Affäre mit der Antiquariatsverkäuferin Janet. Sein ausgesprochenes Sprachentalent, das die Beherrschung etlicher Dialekte einschließt, lässt die Scouts für den Geheimdienst MI6 aufhorchen: Ob er nicht gerne undercover arbeiten würde? Tomás sträubt sich vehement.

Tod der Geliebten

Als nach einem seiner intimen Besuche die Geliebte Janet erdrosselt aufgefunden wird und Tomás als Hauptverdächtigter immer mehr in Bedrängnis gerät, kommt vom Geheimdienst ein Angebot, das er nicht ablehnen kann: Man bietet ihm die Vertuschung des Falls an. Gegenleistung wäre Tomás' Verpflichtung für die Schlapphüte.

Der junge Mann schlägt widerwillig ein, kehrt zur seit Jugendjahren geliebten Berta zurück. Man heiratet in Madrid, er ist pro forma Angestellter der britischen Botschaft und immer wieder Wochen und Monate lang auf gefährlicher Mission unterwegs.

Wer nach dieser geradezu klassischen Einführung eine Kette süffiger James-Bond-Abenteuer erhofft, wird bitter enttäuscht. Denn was Tomás undercover so treibt, erfahren weder wir noch seine Frau. Was der Leser mitbekommt, ist das Innenleben der wartenden Gattin, die Ängste und Ahnungen, die Sorgen und Spekulationen. Marías beschreibt diese Zustände des Ausharrens und Grübelns aus Bertas Perspektive in endlos verschachtelten Sätzen und Passagen sowie einer mitunter lähmenden Ausführlich- und Innigkeit. 650 Seiten sind dafür eindeutig zu viel, ein beherzter Lektor hätte eingreifen müssen.

Immerhin baut Marías Cliffhanger ein, die hier natürlich nicht verraten werden. Berta Isla, die durch das Studium einschlägiger Literatur zur Geheimdienstexpertin wird und sich zur scharfen Kritikerin von Aktionen entwickelt, die sich unter dem Radar juristischer sowie politisch-demokratischer Kontrolle entfalten, zieht den Leser mit hinein in diese Diskussion, in der 007-Verklärung keinen Platz hat. Auch Tomás selbst ist kein kernig-strahlender Agent, sondern eine zunehmend gebrochene Persönlichkeit, die unter dem Leben zwischen den Welten leidet und fast die Orientierung verliert. Gleichwohl gibt es erbitterte Debatten zwischen den Eheleuten über Sinn und Legitimität verdeckter Ermittlungen und Aktionen, über die perfide Ähnlichkeit klandestiner Missionen, ob sie nun unter diktatorischer oder demokratischer Ägide ablaufen. Eine interessante, aber sehr akademische Debatte, die Marías da abspult.

Berüchtigte Abschweifungen

Der Roman erstreckt sich über Jahrzehnte. Nachdem Berta ihren Tomás 1982 am Flughafen Barajas verabschiedet hat – für den Agenten geht es in den Falklandkrieg –, beginnt eine schwierige Zeit für sie und die beiden Kinder. Jahrelang warten sie auf Tomás. Hat er sie verlassen? Ist sie schon Witwe, ohne es zu wissen? Tomás ist verschollen. Auch der Roman verliert sich hier, findet erst in den letzten hundert Seiten zu einer spannenden, temporeicheren Erzählung und einem erneuten Perspektivwechsel. Das Buch hat große Stärken – Bertas Verstörung nach der Selbsttäuschung, ihre düsteren Fantasien sind brillant geschildert, auch die wachsende Entfremdung der Eheleute, der massive Vertrauensverlust. Aber Marías Roman hat auch Schwächen: Die berühmt-berüchtigten Abschweifungen und quasi-lexikalischen Einschübe des Meisters, die schlauen, endlosen Wortkaskaden wollen so gar nicht zum Genre Agententhriller passen, der „Berta Isla“ gelegentlich tatsächlich ist. Ein entschleunigter Krimi.

Javier Marías: „Berta Isla“. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. S. Fischer, 354 SS., 26 Euro.

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