Jazzfest: Konzerte im Pantheon und Haus der Geschichte Klangsuche und ein Feuerwerk aus Seattle

Bonn · Kontrast aus Prinzip: Das Jazzfest Bonn mit Soul von Judith Hill, Funk mit dem Lamarr-Trio, Experimenten von Mariá Portugal und dem Sound-Wanderer Jacob Karlzon. Konzerte im Pantheon und Haus der Geschichte.

Das geht unter die Haut: Mulititalent Judith Hill im Pantheon. Foto: Heike Fischer /Jazzfest

Das geht unter die Haut: Mulititalent Judith Hill im Pantheon. Foto: Heike Fischer /Jazzfest

Foto: Jazzfest/www.heikefischer-fotografie.de

Hausmusik im Kreis der Familie: Bei den Hills aus Los Angeles geht das ziemlich ab - und Lautstärke-technisch an die Schmerzgrenze. Mutter Hill, Michiko, bohrt sich mit schneidendem Orgelklang direkt ins Kleinhirn. Papa Hill, Pee Wee, massiert mit seinen funkigen Bass-Druckwellen Brust und Bauch. Tochter Hill, Judith, gibt dem Publikum im ausverkauften Pantheon mit einer Wahnsinnsstimme den glücklichen Rest. Setzt mit atemberaubenden Keyboard- und E-Gitarren-Passagen noch einen drauf. Ein musikalisches und physisches Ereignis. Am Freitagabend rockte Multitalent Judith Hill mit ihren Eltern und dem schlagkräftigen Drummer John Staten als Verstärkung den Saal und lieferte routiniert ein tolles Paket mit reichlich Soul, gefühligen Blues-Balladen und sattem Funk. Das ging unter die Haut.

Was nicht verwundert, gehörte doch Hill in den letzten Lebensjahren des 2016 gestorbenen Mega-Popstars Prince zu dessen Inner Circle, sie war sogar kurz mit ihm liiert. Jazzfest-Bonn-Intendant Peter Materna hat sich in diesem Jahr vorgenommen, dem Prince-Kosmos nachzuspüren, und Musiker aus seinem Umfeld nach Bonn zu holen. Ida Nielsen und Judith Hill machen den Anfang, am kommenden Wochenende werden die Princeianer Bobby Sparks und Philip Lassiter in Bonn zu hören sein.

Die 39-jährige Judith Hill präsentierte einen guten Querschnitt durch ihr Werk, spielte mit Stücken wie „Wanderer“, „Americana“ und „Give Your Love To Someone Else“ etliche Nummern aus dem aktuellen Album „Baby I’m Hollywood“, begeisterte aber auch mit Stücken ihres Debütalbums „Back in Time“. Das Pantheon war begeistert.

Kontraste beim Jazzfest

Materna, der bei den Doppelkonzerten des Jazzfests aus Prinzip auf starke Kontraste setzt, fand in Jacob Karlzon (52), den Jazzfest-erprobten (2016, 2019) schwedischen Top-Pianisten einen perfekten Gegenpol zu Hill. Ein Wanderer ist auch er, nur ist er mit seiner „Wanderlust“, so der Titel des aktuellen Albums, ganz woanders unterwegs: in Skandinavien, wo der Wanderer auf eine urtümliche Natur und eine fantastische Sagenwelt trifft. Man hört das Pulsieren eines nicht näher definierbaren Klangs, regelmäßig wie ein Echo, das von kleinen Melodiefetzen unterbrochen wird, die Karlzons Piano einstreut. Es dauert etwas, bis aus den Fragmenten eine Melodie wird, bis Karlzon mit den Basslinien von Morten Ramsbøl und dem behutsamen Schlagzeugspiel von Rasmus Kihlberg Verstärkung bekommt. Und dann strahlt das Trio. „Art Of Resistance“, das erste Stück von „Wanderlust“, ist wie eine Ouvertüre zu einem Schauspiel, in dem Musiker unaufgeregt und dennoch hoch konzentriert agieren, sich mit elektronischen Effekten auseinandersetzen. Man hat das Gefühl, dass die Stücke nicht komponiert sind, sondern erst beim Zusammenspiel entwickelt werden, dass das Ende lange offen ist, bis nach längerem Suchen, Zögern und Probieren der geniale Schluss gefunden ist. Wer in die CD hineinhört, weiß, dass die Musik sehr wohl komponiert ist und wertschätzt, dass sie auf der Bühne so spontan und frisch anmutet. Karlzon selbst macht aus jedem Stück ein Abenteuer, lässt bisweilen die Töne wie Fische im Netz zappeln, fügt sie dann quasi aus dem Nichts zu opulenten Melodiebögen – und riskiert Momente des Innehaltens. Riesen-Applaus im Pantheon.

Kontraste im Haus der Geschichte

Sosehr Momente des Innehaltens im Spiel des Karlzon Trios am Freitagabend auch eine Rolle spielten, am Samstag im Haus der Geschichte hätte das Trio lernen können, dass man das auch systematischer exerzieren kann. Das „Mollsche Gesetz“ des im Januar unerwartet im Alter von 56 Jahren verstorbenen Kölner Trompeters Udo Moll legt fest, dass auf eine Minute improvisierter Musik eine Minute Stille zu folgen habe. Dann wieder Musik, dann wieder Stille. Und so weiter. Die in Köln lebende Brasilianerin Mariá Portugal hat Moll, der für das Jazzfestkonzert im Haus der Geschichte eingeplant war, den Abend gewidmet. Sehr frei interpretierte sie mit Sebastian Gramss (Bass) und Matthias Muche (Posaune) unter anderem „Golden Slumbers“ von den Beatles. Nach einer Minute war Schluss. Dann 60 Sekunden Pause. Dann ging es weiter. Dass man die Stille als länger empfand und die Spielpassagen als kürzer, war eine Erfahrung. Dass man in der Stille Unglaubliches erlebt, ist seit den genialen Kompositionen von John Cage kein Geheimnis mehr. Leider machte Portugal ihre Einschränkung, man könne ein Gesetz wie das „Mollsche Gesetz“ auch brechen und die 60-Sekunden-Struktur aushebeln, zu schnell wahr. Noch bevor sich das Publikum damit vertraut gemacht hatte, löste sie das Gesetz auf. Portugals Sprechgesang und Schlagzeugspiel, die Melodiefetzen von Posaune und Bass und auf der Bühne gezauberten digitalen Bildern von Luis Negrón van Grieken fügten sich zu einem 50-minütigen Rausch der Eindrücke.

Feuerwerk aus der Hammond B3

Diesen Rausch setzte Delvon Lamarr aus Seattle mit einer packenden Zeitreise in die goldenen Motown-Jahre fort. Feelgood-Musik mit einem Hauch von Jimi Hendrix vereinigt sich mit pumpendem Soul-Jazz der 60er und 70er Jahre und fetzigem Funk. Was nicht nur Lamarr hinter dem Spieltisch seiner Hammond B3 Orgel schmunzeln lässt. Auch der fulminante Gitarrist Josh Perdue und Ehssan Karimi - „er wollte Musiker sein und ist nur ein Schlagzeuger“ (Lamarr) - waren bester Laune. Faszinierend, wie sich über Lamarrs nur sparsam modulierten Dauerton Perdues wilde Gitarrensoli legten und das Schlagzeug Feuer gab – bis dann Lamarrs Orgel selbst explodierte und der Musiker ein irres Solo nach dem anderen zelebrierte. Das Trio verwöhnte die Bonner unter anderem mit „Move On Up“ von Curtis Mayfield, „Can’t Hide Love“ von Earth Wind an Fire, James Browns „Ain’t It Funky Now“ und „Careless Love“ von George Michael. Herrlich. Dass irgendwann im Vortragssaal des Hauses der Geschichte mindestens jeder Zweite wippte oder den Kopf hin und herwarf, deuten wir als Zeichen, dass das Feuerwerk aus Seattle in Bonn ankam. Der Applaus war nicht minder heftig.

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