Ausstellung im Kunstmuseum Bonn Kunstmuseum Bonn zeigt Ausstellung „Max Ernst und die Natur als Erfindung“

Bonn · Das Kunstmuseum Bonn zeigt die großartige Ausstellung „Max Ernst und die Natur als Erfindung“ und stellt den Zyklus „Histoire naturelle“ in den Mittelpunkt einer Auswahl von mehr als 200 Werken.

Aus dem Urwald wachsen Fabelwesen: Max Ernsts Bild „Jardin, peuplé de chimères“ aus dem Jahr 1936 hat durchaus etwas Bedrohliches.

Aus dem Urwald wachsen Fabelwesen: Max Ernsts Bild „Jardin, peuplé de chimères“ aus dem Jahr 1936 hat durchaus etwas Bedrohliches.

Foto: Kunstmuseum/David Ertl

Er habe einen „Jungfräulichkeitskomplex vor weißen Leinwänden“, notiert Max Ernst am 10. August 1925. Den ersten Farbklecks zu setzen, bereite ihm Probleme. An jenem Tag, ein Regentag am Meer in der Bretagne, starrt der Maler auf den Dielenboden, erkennt die feine Maserung des Holzes, lässt wahllos Papierblätter darauf fallen, reibt mit dem Bleistift darüber. Die Maserung wird sichtbar. Ein Anfang für das Bild, sozusagen ein optischer Provokateur ist gefunden. Die Zufallsstruktur regt die Fantasie an und den Künstler zur Vollendung. Die schier uferlose Technik der Frottage ist erfunden – denn nahezu alles lässt sich durchreiben. „So entstand eine neuartige ‚Naturgeschichte’“, schreibt er.

Ein Jahr nach jener revolutionären Entdeckung in der Bretagne veröffentlicht Max Ernst (1891-1976) seine „Historie naturelle“, einen großartigen Zyklus mit 34 Blättern. Den interpretiert der Kunsthistoriker Volker Adolphs in seiner eindrucksvollen Ausstellung „Max Ernst und die Natur als Erfindung“ – die umfangreichste Schau, die das Kunstmuseum Bonn dem in Brühl geborenen Bonner Studenten, Dadaisten und Surrealisten bislang gewidmet hat – als Schöpfungsmythos. Wohl wissend, dass der Katholik Ernst einerseits hefig mit der Kirche haderte und andererseits das eigene künstlerische Schöpfertum durchaus ambivalent sah. Schließlich hatte er mit der Frottage, Décalcomanie und Grattage zufallsgetriebene Techniken erfunden, die dem Künstler ein gutes Stück schöpferischer Arbeit abnehmen.

Eva blickt ins Ungewisse

Adolphs Konzept überzeugt: In acht Kapiteln, denen er jeweils Blätter aus der „Histoire naturelle“ voranstellt, erzählt er unsere Urgeschichte vom „Anfang der Welt“ über die Entstehung von Flora, der Wälder und der Fauna bis zum Auftauchen des Menschen. Das letzte Bild der „Histoire naturelle“ zeigt Eva von hinten, wie sie in eine ungewisse Zukunft blickt. Was für ein visionäres Blatt. 

Die einzelnen Kapitel sind üppig mit Werken Max Ernsts gefüllt, aber auch von Zeitgenossen wie Hans Arp, Paul Klee, Joan Mirò oder Yves Tanguy und von Künstlern unserer Tage wie Sigmar Polke – nach Ernst der zweite großartige Alchemist des Jahrhunderts –, Tacita Dean, Rebecca Horn und vielen anderen. Eine höchst sinnvolle Erweiterung. Dass Bonn in Sachen Max Ernst aus dem Vollen schöpfen kann, ist den Erwerbungen der Sammlungen Bollinger (1989) und Fitting (2017) zu verdanken. Adolphs erweiterte das Spek­trum um Leihgaben etwa der Fondation Beyeler, die „Fleurs de Neige“, eines der Hauptbilder der Schau, hergab, der Münchner Pinakothek der Moderne, die die hochdramatische „Windsbraut“ reisen ließ, oder des Düsseldorfer Kunstpalasts, der sich vom hinreißenden „Colombes bleus et roses“ trennte. 

Begnadeter Zeichner und Erfinder

Wir erleben einen begnadeten Zeichner, der mit höchster Präzision und Anmut seine Vogelwesen mit einer eleganten Linie aufs Papier wirft. Wir sehen einen fantasievollen Form­erfinder und Regisseur faszinierender Metamorphosen. Schließlich den triumphierenden Vollender, der aus seinen Frottagestrukturen Unglaubliches entwickelt: einen dichten Wald, geheimnisvolle Wesen, halb Pflanze, halb tierische Kreatur, die Schwingungen eines Erdbebens oder die feinen Äderchen in einem Augapfel. „Blumen treten auf. Muschelblumen, Federblumen, Kristallblumen, Röhrenblumen, Medusenblumen“, so schreibt er über den Wandel der Formen, „Alle Freunde verwandeln sich in Blumen. Alle Blumen verwanden sich in Vögel, alle Vögel in Berge, alle Berge in Sterne. Jeder Stern wird ein Haus, jedes Haus eine Stadt.“

Dann fasziniert Max Ernst als Kolorist, der allein durch Farbakkorde Stimmungen erzeugt. Schließlich begeistert der Surrealist als umwerfender Erzähler, der den Betrachter des Bildes „The Twentieth Century“ aus Brühl in der Schwebe lässt, ob der Künstler einst über eine brodelnde Ursuppe auf die gerade entstandene fahle Sonne blickte oder das Ende der Apokalypse mit einem verlöschenden Mond meinte. Ein fesselndes, verstörendes Bild wie auch „La mariée du vent II“ (die Windsbraut), in dem sich der Hengst von oben kommend auf die Stute stürzt, eine gewaltige Vereinigung, erotische Verschlingung und Existenzkampf in einem.

Ausgezeichnet gut sind die flankierenden Künstler ausgewählt: Joseph Beuys passt in diese Naturerzählung ebenso wie Dieter Roth oder Richard Oelze. Adolphs lässt sein großartiges Ernst-Panorama mit einem Mikrokosmos und dem „großen Kosmos“ ausklingen und zeigt am Ende Max Ernsts Zyklus „Maximiliana“ von 1964, eines der spektakulärsten Künstlerbücher des Jahrhunderts. Der Untertitel „L’exercice illégal de l‘astronomie“ (die unerlaubte Ausübung der Astronomie) verweist auf den gescheiterten Forscher Ernst Wilhelm Leberecht Tempel und seine Entdeckung. „Er hatte Genie, aber kein Diplom“, so fasst Ernst das Schicksal des Amateurastronomen zusammen. Mit einer Geheimschrift und rätselhaften Bildern entlässt er uns in den Alltag.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort