Literaturkritik Lese- und Bilderbuch "Mittelmeer-Passagen"

„Mittelmeer-Passagen“: Ein Lese- und Bilderbuch eröffnet die Geschichte eines ganz speziellen Kulturraums. Es ist kein Reiseführer zum Sehenswürdigkeiten-Abhaken, sondern ein kleines Mosaik aus vielen bunten Splittern.

 Nacht am Tempel von Kap Sounion, 60 Kilometer südlich von Athen: Am Mittelmeer verbinden sich Geschichte und Gegenwart.

Nacht am Tempel von Kap Sounion, 60 Kilometer südlich von Athen: Am Mittelmeer verbinden sich Geschichte und Gegenwart.

Foto: picture alliance/dpa

"Badewanne Europas“ nennt man das Mittelmeer gerne. „Eingangshalle Europas, Afrikas und Asiens“ würde aber auch passen. Die vergleichsweise geringen Entfernungen von Küste zu Küste, das vergleichsweise sanfte Klima, die zentrale Lage zwischen drei Kontinenten – seit Jahrtausenden zeigt sich dieses Meer nicht als trennender Ozean, sondern als verbindendes Element der Kulturen, als nicht nur geografisches, sondern auch historisches Phänomen. Einen facettenreichen Blick darauf bietet das Buch „Mittelmeer-Passagen“ – kein Reiseführer zum Sehenswürdigkeiten-Abhaken, sondern ein kleines Mosaik aus vielen bunten Splittern.

Entstanden ist das Buch mit Unterstützung der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn, als Festgabe zum 75. Geburtstag der Kölner Philologin und Theologin Dr. Gisela Fuchs, die als Lehrbeauftragte der Fakultät „Generationen von Studierenden Kenntnisse des Griechischen und des Hebräischen vermittelt hat“, wie die Herausgeber im Vorwort erklären. Und tatsächlich: So wie Studenten in einem Einführungskurs das Rüstzeug für ihren weiteren Umgang mit der antiken Kultur erhalten, so gibt dieses Buch dem Leser eine erste Ahnung vom geschichtlichen Reichtum der mediterranen Welt.

Weil eine „Passage“ ein Durchgang ist, kein Ankommen, umrundet es das Mittelmeer in 13 Texten, beginnend und endend in Marseille (mit einem Abstecher in die einst von Christen bewohnte Stadt Merw in Turkmenistan). Da kommen viele bekannte Namen vor (Jerusalem, Beirut, Rom, Alexandria), viele Jahrhunderte und viele Kulturen. Ebenso rund zeigt sich der dramaturgische Rahmen. Text 1, die farbige Erzählung „Nach Art von Männern“ von Rudyard Kipling, entfaltet den Schiffbruch des Apostels Paulus auf Malta im späteren Gespräch dreier Seeleute. Das weist 130 Seiten voraus zum zwölften Text: Darin plaudert Kipling-Übersetzer und „Hannibal“-Autor Gisbert Haefs in einem „Werkstattgespräch“ über Karthago und seine Kultur und bürstet wilhelminische Feldherren-Klischees dabei munter gegen den Strich: „Mit Elefanten über die Alpen. Der Teil ist eigentlich das, was mich am wenigsten interessiert hat. Ich habe auch nie verstanden, warum Karl May immer so ein Gewese um die Namen seiner Reittiere gemacht hat.“

Das wiederum gerät fast zum Rückverweis auf Text Nummer 4 des Buches: Er beschreibt, wie der Antiken-Mystifizierer Martin Heidegger sich in den Jahren 1962 bis 67 zu vier Reisen nach Griechenland aufmachte – und größtenteils frustriert zurückkam, weil das chaotisch-mediterrane Geschehen an Orten wie Piräus und Mykonos (Studenten-Demo in Athen inbegriffen) so gar nicht zu seiner Philosophie vom in altgriechischem Geiste zu erfassenden „Urgrund des Seins“ passen wollte.

„Im entspannten Stil der Wochenend-Feuilletons“ sollten die Texte gehalten sein, schreiben die Herausgeber. So ganz stimmt das dann leider doch nicht. Der eine oder andere Aufsatz fordert dem Leser viel Konzentration – zum Beispiel die „Jerusalem“-Station „Die Macht des Höchsten ist überall“, die sich mit der Frage befasst, wie Gott nach jüdischem Verständnis einerseits Herr aller Welten sein, zugleich aber im Tempel von Jerusalem wohnen konnte. Doch gerade der wissenschaftliche Hintergrund vieler Beiträge ist es auch, der den Charakter des Buches ausmacht.

Der letzte Aufsatz des Buches bringt die „Passage“ (fast) wieder in die Gegenwart: Er erinnert an den Journalisten Varian Fry (1907-1967), der 1940 und 41 rund 2000 Menschen von Marseille aus die Flucht vor den Nazis ermöglichte. „Viele Grenzen schlossen sich. Und selbst da, wo deutsche Emigranten aufgenommen wurden, erlitt die anfängliche Welle der Solidarität rasch empfindliche Einbußen.“ Der Text beschreibt das noch auf zwölf weiteren Zeilen, die nicht zitiert werden müssen – man lese die aktuelle Tagespresse, die Worte sind gleich. Oder man gehe zurück zur Geschichte Nummer 1. Bei Kipling heißt es: „Im ganzen Mittelmeer gibt's n Echo wie in nem Bad, wenn man gesucht wird.“

So wird die Reise um das Mittelmeer zur Botschaft, dass die Zeit vor 2000 Jahren, die vor 80 Jahren und das Heute sich gerade dort immer wieder neu berühren und vermengen. Nicht nur dergestalt, dass sein lateinischer Name (mare nostrum – „Unser Meer“) auch ein Polit-Slogan der italienischen Mussolini-Faschisten und der Name einer Militäraktion im Rahmen der Flüchtlingskrise war.

Noch einmal zurück zu Gisela Fuchs: Wie ihre Schüler wissen, hat die ihr Mittelmeer-Interesse nicht auf die Antike beschränkt, sondern sich auch intensiv mit der ägyptischen Sängerin Umm Kul-thum (1904(?)-1975) befasst, deren Lieder klassische Werke der arabischen Sprache sind. Denn gerade der Kenner dieses ganz speziellen Kulturraums ist sich bewusst: Der Westen ist nicht denkbar ohne den Osten, der Norden nicht ohne den Süden, das Neue nicht ohne das Alte – weil die Geschichte keine Linie ist, sondern ein sich immer wieder neu schließender Ring. Dies zu zeigen, ist nicht das geringste Verdienst dieses hochinteressanten Buches, das trotz gewichtigen Inhalts bei tourismusfreundlichem Preis in jede Funktionsjackentasche passt.

Winrich C.-W. Clasen, W. Peter Schneemelcher (Hgg.): Mittelmeer-Passagen – Ein Lese- und Bilderbuch. cmz, 206 S., 14,95 Euro

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