Interview mit Jazzpianist Marcus Schinkel spielt Beethoven

BONN · Der Bonner Musiker geht mit seinem Trio ab Januar deutschlandweit auf Tournee und spielt im Mai auch beim Jazzfest Bonn.

 Markus Schinkel.

Markus Schinkel.

Der Flügel steht spielbereit im Musikzimmer. Gleichwohl zieht es Marcus Schinkel vor, das Gespräch in der Küche zu führen. Auch die hat hohe Decken und ist ebenfalls ein Experimentierfeld. Schinkel (47) lebt in einem schmucken Altbau mitten in Bad Godesberg, dort steuert er seine Unternehmungen: Tourneen im Trio oder als gefragter Gastmusiker mit weltweitem Aktionsradius. An diesem Freitag erschien sein neues Album, das „Crossover Beethoven“ heißt und diesem Anspruch mehr als gerecht wird. Mit Marcus Schinkel sprach Heinz Dietl.

Herr Schinkel, wer war Ludwig van Beethoven?
Marcus Schinkel: Es gibt den historischen Beethoven, den alle kennen, andererseits den Beethoven, den ich in dieser Person sehe.

Die Frage bezieht sich auf den zweiten.
Schinkel: „Mein“ Beethoven ist einer der ersten freien Künstler der Musikgeschichte. Er hatte einen sehr starken Willen, um seine Ideen umzusetzen. Mich interessiert seine Anfangszeit in Wien: Damals war Beethoven kompositorisch noch nicht so stark, er hat mehr auf Fantasien, also Improvisationen gesetzt. Er saß am Klavier, hat ein, zwei Stunden fantasiert – und das Publikum war baff, hin und weg.

War das schon Jazz?
Schinkel: Für die damalige Zeit schon. Für mich ist Jazz mehr als nur der Musikstil. Ich koche sehr gern, mache Jazz in der Küche und ich lebe Jazz.

Wie lebt man Jazz?
Schinkel: Man hat eine undefinierte Situation mit bestimmten Vorgaben und muss etwas daraus machen. Das ist Jazz. Man findet Speisen im Kühlschrank, die scheinbar nicht zueinander passen, und komponiert daraus ein leckeres Essen.

Welche Rolle spielen Beethovens Fantasien in Ihrer Musik?
Schinkel: Es war, wie oft auch beim Jazz, eine flüchtige Musik. Beethoven spielte anders, sehr virtuos. Und er war ruppiger, härter und energischer als Mozart oder Haydn. Ich war deshalb schon als Klavierschüler ein Fan, ich mochte kräftige Moll-Akkorde, die knallen. Mit 15 Jahren hörte ich parallel zu Beethoven vor allem Deep Purple und Led Zeppelin. Dieses Rockelement ist, neben Jazz und Klassik, eine neue Farbe auf meinem aktuellen Album.

Was war der Ansatz bei „Crossover Beethoven“?
Schinkel: Die Vorgeschichte ist lang. Ich hatte Projekte in alle drei Richtungen laufen: Klassik, Jazz und Rock. Aber ich habe mich nie getraut, diese Dinge zusammenführen. Als ich mich dann auf die Suche nach einem Synthesizer-Sound begab, der zu meinem Klavier passt, kam die Wende.

Und so entstand das Stück „Going On The 5th“, das mit feiner Ironie Material aus Beethovens 5. Sinfonie verarbeitet?
Schinkel: Ja. Ich habe eine Phrase aus fünf Tönen entwickelt, was dem Humor Beethovens sicher sehr nahe kommt. Er hat oft musikalische Scherze und Schelmereien in seine Stücke eingebaut. Aber ich wollte nicht zu brachial vorgehen.

Was war Ihr Trick?
Schinkel: Es geht um die 5. Sinfonie, also habe ich eine durchlaufende Figur aus fünf Achteltönen aneinander gereiht, aber in einem 4/4-Takt, was erst mal nicht aufgeht. Im Notenbild sieht das kompliziert aus, doch wenn man es hört, klingt es schlüssig.

Die Nummer „With Ludwig Van In Halong“ basiert auf einem 11/8-Takt. Wie kommt man auf so was?
Schinkel: Der Rhythmus ist zusammengesetzt: 3 + 3 + 3 + 2 Achtel. Es gibt ja nur 2er- und 3er-Verbindungen. Und hier handelt es sich um einen 3er-Walzer, bei dem am Schluss ein Achtel fehlt. Diese Kombinationen findet man oft im Balkanraum. Oder im Jazz, etwa bei Dave Brubeck in „Blue Rondo A La Turk“.

Und den Komponisten freut es, wenn der Hörer die Komplexität nicht bewusst wahrnimmt?
Schinkel: Genau. Und die Melodie sollte so stark sein, dass es erst recht nicht auffällt.

Wann und wo kam die Inspiration zu diesem Stück?
Schinkel: Wir waren im Trio mit meinem ersten Beethoven-Programm für ein paar Konzerte in der Deutschen Botschaft in Vietnam eingeladen. In den spielfreien Tagen haben wir die Halong-Bucht besucht, diese Eindrücke habe ich verarbeitet.

Die „Ballade Pathétique“ nach Beethovens Klaviersonate Nr. 8 erweist sich als schöne Jazzballade. War das die Idee?
Schinkel: Nicht nur. Wichtig war mir auch dieser irritierende Glasharfenklang, eine Art verhaltener Tinnitus aus dem Synthesizer. Als Beethoven die Pathétique schrieb, hatte er bereits Gehörleiden. Er wusste, dass er damit kein europäischer Tourneepianist werden würde und sich mehr aufs Komponieren konzentrieren musste.

Beschäftigen Sie sich stark mit Beethovens Biografie?
Schinkel: Ja. Das Thema ist zu brisant, man muss sich nach allen Seiten absichern, wenn man Beethoven-Kompositionen verändert.

Und warum verändern Sie Beethoven-Kompositionen?
Schinkel: Eine humorvolle Antwort findet sich auf dem Album ganz am Schluss auf einem versteckten, nicht ausgewiesenen Titel. Da bin ich als Elfjähriger zu hören. Ich hatte damals Klavierunterricht, und wenn ich üben sollte, habe ich immer erst improvisiert, fantasiert und daraus eine Radioshow für mich aufgenommen, die ich WDR 0 nannte. Der Drang nach Veränderung steckte schon als Kind in mir.

Sie leben in der Geburtsstadt Beethovens. Erweisen die Bonner ihrem größten Sohn die gebührende Ehre?
Schinkel: Dazu möchte ich Kurt Masur zitieren, der einmal gesagt hat: „Bonn ist eine merkwürdige Stadt, da sich nur ein Teil bewusst ist, dass sie Beethoven-stadt ist und eine Verpflichtung hat.“ Masur wollte die Taufkirche Beethovens aufsuchen, im ganzen Hotel konnte ihm keiner sagen, wo die sich befindet.

Und was hat Masur sonst noch gesagt?
Schinkel: Na ja, er hat nach einem Konzert von mir gesagt, dass meine Version von „Für Elise“ sehr viel Sex hat. Ein charmantes Kompliment.

Wie ist denn insgesamt die Auftragslage für einen freiberuflichen Jazzmusiker?
Schinkel: Ich war gerade auf Tour mit der Kabarettistin Nessi Tausendschön. Ich werde regelmäßig als Gastmusiker angefragt. Eine spannende Tournee hatte ich mit dem iranischen Superstar Ebi Hamedi, es ging unter anderem in gepanzerten Fahrzeugen nach Erbil im Nordirak zu einem Konzert vor 10.000 Zuschauern.

Wie kommt Ebi Hamedi auf Marcus Schinkel?
Schinkel: Netzwerke. Er hat in Europa eine Band und eine in Amerika. Ich spielte in der europäischen Tourband. Und es erweitert wirklich den Horizont, wenn man sich gerade für das Kleine Theater mit den Diabelli Variationen beschäftigt hat und dann auf persische Popmusik umschalten muss.

Wie hält man sich fit?
Schinkel: Ich muss Feuer fangen. Ich übe nicht regelmäßig. Wenn eine Tour ansteht, dann übe ich, bis das Repertoire sitzt. Bis zu sechs Stunden am Tag.

Wie viele Konzerte spielen Sie im Jahr?
Schinkel: 100, in etwa. Bis vor geraumer Zeit hatte ich noch mehrere Projekte am Theater Bonn, doch dort muss momentan gespart werden, leider an der Musik. Jetzt nutze ich die Zeit, um mich verstärkt meinen eigenen Projekten zu widmen.

2006 haben Sie auf der Hochzeit von Günther Jauch in Potsdam gespielt. Wie kommt man an einen solchen Auftrag?
Schinkel: Wieder durch diese Musikernetzwerke. Kollegen fragen Kollegen, ob sie Zeit haben, in einer Band für diesen oder jenen Zweck zu spielen.

Und was haben Sie gespielt? Den Hochzeitsmarsch?
Schinkel: Nein, überwiegend Supertramp. Jauch mag das seit seiner Jugend.

Also hat man sein Auskommen als freier Musiker?
Schinkel: Ja, wenn man keine Scheu hat, auch mal Supertramp oder persische Popmusik zu spielen. Wer ausschließlich Jazz machen will, auch noch mit dem Schwerpunkt „Freejazz der sechziger Jahre“, der braucht zumindest ein lukratives Standbein als Musikdozent.

Und wenn jetzt Helene Fischer anrufen würde?
Schinkel: Nein, auf keinen Fall!

Warum nicht?
Schinkel: Ich habe nichts gegen diese Musik, sie hat ihre Berechtigung, aber ich hätte keinen Spaß daran. Ich spiele nur Dinge, die ich auch vertreten kann. Diesen Luxus leiste ich mir.

Zurück zum Jazz. Was kochen Sie heute Abend?
Schinkel: Kommt darauf an, was ich im Kühlschrank vorfinde. Vielleicht eine Banane, einen frischen Fisch und eine Möhre. Ich kenne die asiatische Küche, deshalb würde mir sofort ein Gericht einfallen.

Ein Curry mit dem harmonischen Gewürz Masala?
Schinkel: Beispielsweise, und das führt wieder zu meiner Musik: Meine Gewürze sind die Akkorde. Beethoven hat seinerzeit sehr moderne Akkorde benutzt, die für damalige Ohren sehr scharf geklungen haben müssen.

Also mehr nach Chili.
Schinkel: Genau. Aber Akkorde nutzen sich mit der Zeit ab. Im Mittelalter wurde eine Terz noch als dissonant empfunden. Ich denke, Beethoven würde heute wesentlich komplexere Akkorde verwenden als zu seiner Zeit, um dieselbe Intensität zu erreichen.

Was ist mit den Melodien?
Schinkel: Die hätte Beethoven so belassen.

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