Flug ins Auge des Grauens Neu im Kino: Christopher Nolans herausragender Kriegsfilm „Dunkirk“

Ab Donnerstag im Kino: Christopher Nolans herausragender Kriegsfilm „Dunkirk“. Der Film treibt Alfred Hitchcocks klassisches Spannungskino mit rasiermesserscharfen Schnitten auf die Spitze

 „Dunkirk“ macht keine Gefangenen, aber unvergessliche Bilder.

„Dunkirk“ macht keine Gefangenen, aber unvergessliche Bilder.

Foto: AP/Warner Brothers

Fast ein Idyll: Eine Gruppe Soldaten geht langsam durch leere Gassen, Nazi-Flugblätter torkeln wie Asche zu Boden. Sie machen den Engländern die Einkesselung von Dünkirchen klar, das doch so friedlich wirkt. Bis MG-Salven die Stille zerfetzen und die Männer niedermähen – alle außer den jungen Tommy. Mit dessen Zickzacksprint zum Strand baut Christopher Nolans „Dunkirk“ jenen Druck auf, der in eindreiviertel Stunden immer nur zunimmt.

Nein, dieser Film macht keine Gefangenen, aber unvergessliche Bilder. Tausende britische Soldaten, die in fahlem Zwielicht auf viel zu wenige Evakuierungsschiffe warten und – wie im Trauerzug auf der Mole zusammengedrängt – leichte Beute der deutschen Tiefflieger werden. Oder Tommy (ausdrucksvoll: Fionn Whitehead) und seine jungen Kameraden (Aneurin Barnard, Harry Styles), die in den schmutzigen Schaum der Brandung starren. Gewaltige und intime Tableaus der Hoffnungslosigkeit.

Dabei erzählt Nolan („The Dark Knight“, „Interstellar“) ja, wie sich 1940 ein militärisches Desaster mit 400 000 chancenlos umzingelten Kämpfern für das britische Expeditionskorps noch in einen moralischen Sieg verwandelte. Dies letztlich nur, weil eine aus der Heimat herbeigerufene Flotte von Vergnügungsdampfern, Fischkuttern und anderen Privatbooten dazu beitrug, den Löwenanteil der Männer aus dem nordfranzösischen Kessel zu evakuieren.

Der in London geborene Autor und Regisseur hatte sich schon in den 90er Jahren bei einer rauen Ärmelkanal-Überquerung per Segelboot selbst sein Gefühl für das „Wunder von Dünkirchen“ geholt. Nun fokussiert er das Geschehen allein aus britischer Perspektive in drei genial verflochtenen Erzählsträngen: „Die Mole (eine Woche)“, „Das Meer (ein Tag)“ und „Die Luft (eine Stunde)“. Am Strand hält Kenneth Branagh als tragisch umflorter Offizier einsame Katastrophenwacht, während Mr. Dawson (Mark Rylance) mit seinem Sohn und dessen Freund in einem englischen Hafenstädtchen in See sticht, um sich an der Rettungsmission zu beteiligen. Unterdessen kämpft Royal-Air-Force-Pilot Farrier mit zwei weiteren Spitfire-Fliegern gegen die allgegenwärtigen deutschen Gegner. Ein Flug ins Auge des Grauens.

Großartige Kamerafahrten

Nolan geht es weder um den Krieg als monströse Knochenmühle (wie in Spielbergs „Der Soldat James Ryan“) noch um die Entmenschlichung durch militärischen Drill (Kubricks „Full Metal Jacket“). Vielmehr treibt „Dunkirk“ Alfred Hitchcocks klassisches Spannungskino mit rasiermesserscharfen Schnitten auf die Spitze. Kino als Nervenkrieg. Immer enger werden die Fronten verzahnt, denn überall hängt das Überleben am seidenen Faden. Mr. Dawsons Boot bekommt Schlagseite, als ein traumatisierter Kämpfer (brillant verzweifelt: Cillian Murphy) geborgen wird. Und während Tommy seinen Glücksvorrat in sinkenden Schiffen aufbraucht, reibt sich Farrier bei schwindendem Treibstoff in Endlosduellen mit den Messerschmitts auf.

Dass Tom Hardy hinter der Sauerstoffmaske steckt, sieht man kaum, doch das Stress-Drama seiner blitzschnell den Himmel scannenden Augen fesselt ebenso wie die furiosen Kampfszenen. Das alles hat der grandiose Kameramann Hoyte Van Hoytema mit IMAX-Kameras auf 65-Millimeter-Material gebannt: Luftaufnahmen wie Blicke durchs göttliche Auge, dazu Innenszenen (das enge Cockpit!) von enormer Tiefenschärfe. Man sieht das große Sterben in brennenden Öllachen – und jenen Soldaten, der seinen Helm ablegt und todmüde ins Wasser geht. Gesprochen wird kaum, doch geht Hans Zimmers infernalisch-raffinierter Soundtrack durch Mark und Bein.

Als endlich all die rettenden Schiffe kommen, löst sich der Druck, doch zu patriotischem Jubel reicht es kaum. Dazu liegen zu viele leere Stahlhelme am Strand, über dem Farriers Spitfire mit starrem Propeller nur noch segeln kann. Allein für dieses nie gesehene Bild zwischen Schönheit und Entsetzen würde sich die Kinokarte schon lohnen.

Stern, Woki, Kinopolis

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