Neues Buch von Bob Dylan „Philosophie des modernen Songs“
Bonn · Musiker und Nobelpreisträger Bob Dylan beschreibt in seiner „Philosophie des modernen Songs“ 66 seiner Lieblingslieder. Wer hinter der „Philosophie“ einen theoretischen Überbau erwartet, wird aber enttäuscht.
Mit seiner Schrift „Philosophie der neuen Musik“, die er im US-amerikanische Exil schrieb und 1949 publizierte, hat der Frankfurter Soziologe und Philosoph Theodor W. Adorno ein Beben ausgelöst, das in der nachkriegsdeutschen Kulturlandschaft noch jahrzehntelang zu spüren war. Dort wo über neue Musik gestritten wurde, sei es in Donaueschingen, Darmstadt oder den großen Sendeanstalten wie dem WDR oder dem SWR, lieferte Adornos Buch verlässliche dialektische Argumentationsmuster zu ihrer Klassifizierung in vermeintlich gut oder schlecht.
Einen ganz ähnlich lautenden Titel legt nun der Musiker, Songpoet und Literaturnobelpreisträger Bob Dylan vor: „Die Philosophie des modernen Songs“. Höher kann man die Erwartungen kaum schrauben, als Autor und Verlag es hier mit großem Selbstbewusstsein tun. Wer nun jedoch von Dylans „Philosophie“ einen theoretischen Überbau erwartet, wird enttäuscht. Sein Buch ist auch keine praktische Anleitung, wie modernes Songwriting heute geht. Man erhält keine Systematik und bekommt keine analytisch fundierten Gesetzmäßigkeiten präsentiert, die dem Wesen des modernen Songs auf den Grund gehen würden. Anders als Adornos bis heute von vielen als provokant empfundene Schrift liefert Dylan nicht einmal eine Handreichung zur kritischen Beurteilung zeitgenössischen popkulturellen Liedschaffens.
66 essayistischen Miniaturen
Hinter Dylans „Philosophie des modernen Songs“ verbirgt sich vielmehr eine exquisit kuratierte Playlist. Das Buch ist eine wunderschöne, mit tollen Fotografien illustrierte Sammlung aus 66 essayistischen Miniaturen, wovon jede einzelne einem Song der handverlesenen Auswahl gewidmet ist. Die Kapitel dieser poetischen Route 66 sind formal ziemlich gleich gestaltet, wobei der mittlerweile 81-jährige Autor im ersten Teil stets in der zweiten Person Singular spricht. „In diesem Song ist das Feuer ausgegangen“, beginnt er seine Überlegungen zu Stephen Fosters „Nelly Was a Lady“ aus dem Jahr 1849, „und dein Leben ist hinüber. Dein Glück wurde zunichte gemacht – keine Spur mehr davon. Dein Glück ist absolut vorbei.“ Und im zweiten Teil heißt es dann: „Das ist ein unglaublich mitreißender Song, der es darauf anlegt, dass sich alle, die jemals ein Leben gelebt haben, hinlegen und weinen.“ In manchen seiner Beschreibungen weiß man gar nicht, was einen mehr berührt. Der Song selbst, oder das, was Dylan über ihn schreibt.
Die Spannweite der 66 Songs ist weit. Sie reicht von Fosters „Nelly Was a Lady“ von 1849 bis ins 21. Jahrhundert, das er mit Warren Zevons „Dirty Life And Times“ streift, das der Songwriter auf seinem letzten Album 2003 veröffentlichte. Dass Zevon darauf kurz vor seinem Krebstod ironischerweise eine Coverversion von „Knockin’ on Heaven’s Door“ singt, dürfte Dylan nicht entgangen sein. „Du stemmst ein Leben voller Einschusslöcher“, fällt Dylan zu Zevons Lied ein, „alles auf eine Karte, unerschrocken und furchtlos. Dieser Song ist von auffallender Schönheit. Ein Teufelskerl von einem Song.“
Der größte Teil der Beispiele ist in den USA der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verortet, Frank Sinatra und Elvis Presley sind dabei, Ray Charles, Willie Nelson und Dean Martin. Aus Italien kommt Domenico Modugno, dessen Hit „Volare“ (Dylan: „Dies hätte einer der ersten halluzinogenen Songs sein können, mehr als zehn Jahre vor ‚White Rabbit‘ von Jefferson Airplane“) der Autor unvermittelt „London Calling“ von The Clash folgen lässt, einem der ganz wenigen Beispiele britischer Songkultur.
Die Auswahl ordnet Dylan nur einem Gesetz unter: das der strikten Subjektivität. Er scheint wenig Interesse daran gehabt zu haben, eine wie auch immer geartete repräsentative Auswahl für seinen Überblick zu schaffen.
Und er zeigt jede Menge Mut zur Lücke. Kein anderer, der über den modernen Song schreiben würde, käme an dem beeindruckenden Songkatalog Bob Dylans vorbei. Nicht nur, dass er für seine Kunst mit dem Polarpreis und dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde, und sein Titel „Like A Rolling Stone“ seit vielen Jahren unangefochten die von dem Fachmagazin „Rolling Stone“ erstellte Liste „The 500 Greatest Songs of All Time“ anführt, der Einfluss Dylans spiegelt sich auch in unzähligen Cover-Versionen seiner Songs von Jimi Hendrix‘ „All Along the Watchtower“ bis zu Adeles „Make You Feel My Love“ wider. Dass er all die großen eigenen Beiträge auslässt, mag man als Understatement sympathisch finden, ist aber für eine „Philosophie des modernen Songs“ unverzeihlich. Auch einen Song von den Beatles oder den Beach Boys sucht man übrigens vergebens. Nina Simone und Regiona Belle zählen zu den wenigen Frauen, die Erwähnung finden. Joni Mitchell? Fehlanzeige!
Bob Dylan war noch nie gut darin, Erwartungshaltungen zu erfüllen. Und damit ist er nicht schlecht durch sein Leben gekommen. Beherzigt man dies, wird die Lektüre der 66 Texte seiner „Philosophie des modernen Songs“ trotz ihrer Lückenhaftigkeit durch die Originalität der Gedanken zu einem inspirierenden Leseerlebnis. Der Widerspruch, den er manches mal provoziert, ist da eingepreist.