Buchtipp "Neujahr" von Juli Zeh geht unter die Haut

Bonn · Juli Zehs packender Familienroman „Neujahr“ verwandelt Lanzarote in einen Albtraum. Mit einer starken Sprache und ihrer bewährten Beobachtungsgabe nimmt Zeh Hennings Leben unter die Lupe

"ES“ schleicht sich in der Nacht heran wie ein Tier, setzt zum Sprung an, springt, „ES“ ist ein Tier, ein Parasit, ein Alien, das demnächst seine Bauchdecke durchstoßen will. Hier geht es aber nicht um Ridley Scotts Horrorklassiker „Alien“, sondern um einen ganz alltäglichen Horror im Leben von Henning. Fast ohne Vorwarnung fällt „ES“ in Gestalt einer Panikattacke nächtens über den Familienvater her, raubt ihm Atem und Schlaf. Früher, so denkt Henning, hätte man „ES“ als Dämon bezeichnet und den Mann exorziert.

Die Autorin Juli Zeh beschreibt diese Panikattacken in ihrem neuen Roman „Neujahr“ mit einer Intensität, dass man als Leser unweigerlich ein sich regendes Alien unter dem eigenen Herzen spürt. Angst und Atemlosigkeit durchziehen diesen Roman, in dem es nicht nur um Hennings Beklemmungen und Albträume geht, sondern auch um sein Umfeld, die Ehefrau Theresa, die Kinder Bibbi und Jonas, die Schwester Luna.

Mit einer Akribie, die Zeh bereits meisterhaft in dem sarkastischen Gesellschaftsroman „Unter Leuten“ demonstrierte, durchleuchtet die 1974 in Bonn geborene Autorin Hennings durch und durch illusionsloses Familienleben. Am Neujahrstag zieht er während des Urlaubs auf Lanzarote eine bittere Bilanz.

Der Radler stößt an seine Grenzen

Zeh lässt ihren Protagonisten ohne Proviant und Wasser auf einem suboptimalen Mountainbike den Weg zum in einer Höhe von 500 Metern gelegenen Bergdorf Femés am Fuß des Atalaya erklimmen. Die Tour wird zur Tortur, zum Existenzkampf. Henning stößt an seine Grenzen, erleidet im Fahrradsattel die Schmerzen, die ihm „ES“ gewöhnlich nächtens zufügt.

Er führt eine „gute“, „funktionierende“ Ehe, fühlt sich jedoch von Theresa, die am Silvesterabend heftig mit einem Franzosen geflirtet hat, ungeliebt. Die Kinder sind ihm in ihrer Überspanntheit und Urlaubslangeweile eine stete Belastung. Überhaupt ist ihm alles zu viel: Teilzeit im Verlag, Hausarbeit, Kinderdienst und dann auch noch „ES“, das ihn in der Nacht heimsucht. Das Dilemma eines modernen, familienkompatiblen Mannes.

Mit düsteren Gedanken und Angstfantasien im Kopf kämpft und quält sich Henning den Berg hinauf. Es ist ein schweißtreibender Horrortrip mit delirierenden Momenten. Etwas mühsam und zäh übrigens auch für den Leser, der sich bald in der irrlichternden Welt von Hennings Albträumen zurechtfinden muss.

Traumatische Momente in Femés

Jeder Fahrradfahrer weiß, dass auf die Agonie des Aufstiegs die Euphorie der Abfahrt kommt. Bemerkenswerter Weise nimmt auch der Roman nach Hennings Bergankunft und Zusammenbruch Tempo auf – der Roman wird zum atemberaubenden Thriller, der direkt zu den Urängsten Hennings führt, zur Zeit, als „ES“ sich erstmals bei ihm meldete und ihn drangsalierte. Er erinnert sich, dass er als Kind schon mal in Femés war, er und Luna mit den Eltern. Henning und Luna erlebten damals traumatische Momente, die sich in beider Leben einschrieben.

Mit einer starken Sprache und ihrer bewährten Beobachtungsgabe nimmt Zeh Hennings Leben unter die Lupe – kühl und mit einer Portion Sarkasmus beleuchtet sie ihre in ihrer Zwanghaftigkeit mitunter lächerliche, in ihrer Gefangenheit jedoch auch anrührende Figur. Sie könnte dem Personal aus dem großartigen Gesellschaftspanorama „Unterleuten“ (2016) entstammen.

„Neujahr“ knüpft auch qualitativ an dieses Werk an, überzeugt viel stärker als der 2017 erschienene Politthriller „Leere Herzen“. Das packende Schicksal des kleinen und des großen Henning wird spannend erzählt, die Nöte des modernen Menschen in einer Welt der permanenten Überforderung schildert sie plastisch. Das geht unter die Haut.

Juli Zeh: Neujahr. Luchterhand Literaturverlag, 192 S., 20 Euro.

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