Franzobels Roman „Einsteins Hirn“ Pathologe im freien Fall

Bonn · Der österreichische Schriftsteller Franzobel stellt seinen bizarren Roman „Einsteins Hirn“ kommende Woche im Bonner BuchLaden 46 vor.

Der Autor Franzobel kommt für eine Lesung nach Bonn.

Der Autor Franzobel kommt für eine Lesung nach Bonn.

Foto: Julia Haimburger

Harveys Leben verlief bisher unspektakulär. Der Autor Franzobel bezeichnet den 42-Jährigen als schweigsamen Mann, der wie ein verweichlichter Clint Eastwood, eher noch wie Tom Hanks aussieht und vom Wesen her wie James Stewart im Film „Mein Freund Harvey“ wirkt, weswegen Franzobel ihn bisweilen auch Weißer Hase nennt. Der schweigsame Mann ist Pathologe. Mit lebendigen Menschen hat er es nicht so. „Thomas Harvey heißt der Mann“, steht immer wieder in Franzobels neuem Roman. Sein Harvey lehnt sich an die historische Figur Thomas Stoltz Harvey an, 1912 in Louisville, Kentucky, geboren, 2007 in Titusville, New Jersey, gestorben. 1955 arbeitet Harvey am Princeton Hospital als Pathologe, weswegen er auch „Der Tod“ genannt wird. Am 18. April des Jahres stirbt der Physiker und Nobelpreisträger Albert Einstein im Princeton Hospital, Harvey soll die Autopsie übernehmen. Er wittert die Chance, berühmt zu werden als der, der den Wissenschaftsgott sezierte. Er nimmt die Chance wahr, obduziert den Leichnam – und lässt Einsteins Hirn mitgehen.

Schwere Kindheit

„Einsteins Hirn“, so heißt der neue Roman des Österreichers Franzobel, berichtet bunt, ausführlich, witzig und durchaus spannend, was der Diebstahl des prominenten Denkorgans in Harveys Leben anrichtete. Der eher mittelmäßige Pathologe hatte weder die Lust noch das fachliche Potenzial, um Einsteins Hirn auf seine Einzigartigkeit und Genialität hin zu überprüfen. Er, der als schüchterner, stotternder Knabe von seinem Vater gedemütigt und mit einem Elektrokabel verdroschen wurde und später mit Frau und Kindern ein graues Durchschnittsleben führte, wollte Einsteins Hirn haben, um endlich etwas Besonderes zu sein. Und das passierte, wenn auch anders, als er sich das wohl vorgestellt hatte.

Harveys Leben verändert sich radikal: Frau, Familie, Beruf haben nicht mehr den Stellenwert, den sie einmal hatten. Der Pathologe befindet sich je nach Perspektive im freien Fall (so sehen es die anderen) oder schwirrt ab wie ein herrenloser Ballon (so mag ihm das vorkommen). Oder wie ein Hippie im LSD-Rausch: Im August 1969 besucht der Biedermann Harvey das legendäre Festival in Woodstock, schluckt eine Pille, erlebt den Auftritt von Janis Joplin und Santana sowie die Umarmung des LSD-Papstes Timothy Leary im bunten, psychedelischen Drogennebel und sieht, wie sich vor seinen Augen die Buchstaben von „Hare Krishna“ auf einer Bretterwand in „Helter Skelter“ verwandeln.

Anfang und Ende des „Summer of Love“

Franzobel begeistert mit etlichen solcher Passagen, die die Geschichte ins Surreale und Groteske kippen lassen. Mit zwei Begriffen markiert Franzobel Anfang und Ende des „Summer of Love“ 1969: „Hare Krishna“, eines der berühmtesten Mantras der hinduistisch angehauchten Blumenkinder, ist so etwas wie eine Friedenshymne (sie findet sich zum Beispiel im Song „My Sweet Lord“ von George Harrison); als „Helter Skelter“ (Titel einer Nummer der Beatles) bezeichnete Charles Manson seine brutalen Visionen, auf die – ebenfalls im August 1969 – die Morde der Manson Family folgten.

So detailreich und opulent Franzobel die eigentliche Obduktion Einsteins schildert – nichts für zarte Gemüter – so ausladend berichtet er auch über Harveys Leben, das sich als bürgerlicher Niedergang darstellt, was Harvey selbst gar nicht so zu stören scheint. Denn seitdem Einsteins Hirn mit ihm spricht, über die Theorien, aber auch biografischen Abgründe des Nobelpreisträgers redet, lebt der Pathologe ohnehin in einem Paralleluniversum. Das Hirn des Physikers prägt seinen Alltag. Wenn ihn eine seiner Frauen, die er alle irgendwann „Brezelchen“ nennt, vor die Wahl stellt: Das Hirn oder ich, entscheidet er sich für den grauen Zellklumpen im Glas und lässt sich von der jeweiligen Frau scheiden.

Wenn das Hirn redet

Das Hirn, erst im Ganzen, dann gewürfelt, nimmt den Mittelpunkt von Harveys Alltag ein. Ob es mit ihm redet – anfangs auf Berner Schweizerdeutsch, später Hochdeutsch – oder nicht, beeinflusst Harveys Stimmung. Will das Hirn Kontakt zu Frauen, bringt der Pathologe es zu einer Prostituierten, fragt das Hirn nach dem Sinn des Lebens, bringt Harvey es mit verschiedenen Religionen, mit Priestern, Predigern und Rabbis in Kontakt, was Franzobel unglaublich witzig zu schildern weiß.

Der Pathologe mit Einsteins Hirn im Schlepptau steht immer wieder schwer unter Druck, mal dringt der Testamentsvollstrecker Otto Nathan auf die Herausgabe des Denkorgans oder die angekündigte bahnbrechende wissenschaftliche Arbeit über dasselbe, mal äußern Pathologenkollegen und Universitätsprofessoren berechtigte Zweifel an Harveys fachlicher Kompetenz. Immer wieder gibt es Presseanfragen oder Einladungen zu Vorträgen. Was ihn anfangs in Sorge versetzt, pariert er später wie ein versierter Hochstapler. So ist „Einsteins Hirn“ in erster Linie ein Schelmenroman des 20. Jahrhunderts, bei dem man viel lacht, aber auch viel über Einsteins dokumentierte und fiktive Gedanken erfährt und letztlich mit Harvey durch die zweite Hälfte des Jahrhunderts rauscht und so eine schöne Chronik der Zeit mitnimmt.

Franzobel liest am Mittwoch, 22. Fe­bruar, 20 Uhr, im Bonner BuchLaden 46 aus „Einsteins Hirn“, Zsolnay Verlag, 543 S., 28 Euro.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort