Buchtipp Porträt einer Gesellschaft

Bonn · Vor 90 Jahren erschien August Sanders epochales Foto-Werk „Antlitz der Zeit“ mit einem Vorwort von Alfred Döblin. Jetzt gibt es eine Neuausgabe mit Pressezitaten von 1929 bis 1933.

Über Nacht könnte Werken wie dem von Sander eine unvermutete Aktualität zuwachsen. Machtverschiebungen, wie sie bei uns fällig geworden sind, pflegen die Ausbildung, Schärfung der physiognomischen Auffassung zur vitalen Notwendigkeit.“ Das schreibt Walter Benjamin 1931 in der „Literarischen Welt“. Und weiter: „Man mag von rechts kommen oder von links – man wird sich daran gewöhnen müssen, darauf angesehen zu werden, woher man kommt. Man wird es, seinerseits, den anderen anzusehen haben.“

Wie feinsinnig und weitsichtig diese Rezension Benjamins von August Sanders (1876-1964) Buch „Antlitz der Zeit“ ist. Der Kölner Fotograf versammelte darin „60 Fotos deutscher Menschen“, ein fantastisches Kompendium und einzigartiges Zeitdokument. Im November 1929, als es erschien, hatte der New Yorker Börsenkrach vom Oktober die Welt in eine beispiellose Krise mit Inflation und Arbeitslosigkeit gestürzt. Die politische Stimmung kippte – 1929 saßen die Nazis in mehreren Landtagen. In dieser Zeit erscheint also „Antlitz der Zeit“. 1936 beschlagnahmen die Nationalsozialisten das Buch, das der gebürtige Bonner Kurt Wolff in seinem Wolff/Transmare-Verlag vor 90 Jahren herausgegeben hatte.

Im Kölner August Sander Archiv, untergebracht in der Photographischen Sammlung/SK Stiftung Kultur, sind alle Archivalien rund um dieses wichtige Buch versammelt. Gabriele Conrath-Scholl und Claudia Schubert haben nun für den Verlag Schirmer/Mosel diesen Klassiker der deutschen Fotoliteratur neu herausgegeben, ergänzt um die Rezensionen, die 1929 bis 1933 von Tucholsky, Benjamin und anderen über Sanders Buch erschienen, ferner um Texte über den Verleger Wolff und das Presseecho auf „Antlitz der Zeit“.

Verschiedene Fotografen-Typen

Faszinierend ist natürlich auch das Vorwort von Alfred Döblin, der ebenfalls im Jahr 1929 sein wunderbares Großstadtpanorama „Berlin Alexanderplatz“ veröffentlicht hatte und sich nun unter dem Titel „Von Gesichtern, Bildern und ihrer Wahrheit“ Gedanken über die Gesellschaftsporträts Sanders – den Bauern und den Berliner Tapezierermeister, die Landproletarierkinder und die Geistlichen, den Maler, Arzt, Industriellen und Arbeitslosen – machte.

Bei Döblin geht es um Individualität und die „Abflachung“, das Verwischen persönlicher und privater Unterschiede „unter dem prägenden Stempel einer größeren Gewalt“: die Gewalten des Todes und der menschlichen Gesellschaft. Und Döblin macht sich auch Gedanken über Fotografen, die er in drei Kategorien unterteilt. Es gebe zunächst solche, „die künstlerisch sehen, denen das Gesicht Material für ein Bild ist, sie sind auf Effekte aus“. Da sind ferner die Fotografen, „die als Wald- und Wiesenpflanzen auf allen Straßen gedeihen“. In Döblins Augen sind sie „mehr als jene künstlerischen Herren“, weil sie ein möglichst ähnliches Bild vom Menschen suchen: Das Persönliche, Private, Einmalige an diesem Menschen soll auf der Platte festgehalten werden.

Soziologie der Gesellschaft

Die dritte Gruppe, Döblins Favoriten und in Deutschland nur durch Sander vertreten, sind die Anhänger des Realismus, „sie halten die großen Universalien für wirksam und real, und wenn sie photographieren, siehe da, so sind es nicht ähnliche Bilder.“ Man habe eine Art Kulturgeschichte, besser Soziologie der letzten dreißig Jahre vor sich, man bekomme einen Überblick über die Entwicklung der Wirtschaft, der politischen Entwicklung. Döblin erwähnt Sanders Klein- und Großbauern, Arbeiter und Industrielle, großstädtische Handwerker und Großstadtproletarier, den Professor und den Tagelöhner, Geistliche und Lehrer. „Vor vielen dieser Bilder müsste man ganze Geschichten erzählen, sie laden dazu ein, sind ein Material für Autoren, das reizender ist und mehr hergibt als viele Zeitungsnotizen.“

Sanders einzigartiges Panorama hatte ein immer noch sehr lesenswertes großes Presseecho: Tucholsky und L. Fritz Gruber, Walter Dirks, Luise Straus-Ernst und viele andere reagierten auf das Buch.

August Sander: „Antlitz der Zeit – 60 Fotos deutscher Menschen. Mit einem Essay von Alfred Döblin und Rezensionen von 1929 bis 1933. Schirmer/Mosel Verlag, 200 S., 69 Duotone-Tafeln, 29,80 Euro.

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