Abgründiges aus dem Norden

"Aus dem Leben der Regenwürmer" von Per Olov Enquist zeichnet im Bonner Euro Theater Central ein düsteres Bild Kopenhagens im 19. Jahrhundert: Inzest, Alkoholismus und Judenverfolgung

  Heike Bänsch  gelingt es, die Brüche in der Figur der Johanne deutlich zu machen.

Heike Bänsch gelingt es, die Brüche in der Figur der Johanne deutlich zu machen.

Foto: Euro Theater

Bonn. "Wir beide sind im Dreck geboren, aber wir sollten uns nicht schämen!" So lässt Per Olov Enquist die Protagonistin Johanne Luise Heiberg in seinem Stück "Aus dem Leben der Regenwürmer" sprechen, das jetzt im Euro Theater Central Premiere feierte.

Sie schleudert diesen Satz dem dänischen Märchendichter Hans Christian Andersen entgegen, der bei ihr und ihrem Mann Johan Ludvig (Daniel Andone) zu Besuch ist.

Obwohl beide, Frau Heiberg und Andersen, in Armut und Schrecken aufgewachsen sind, haben sie Jahrzehnte später ganz unterschiedliche Techniken entwickelt, mit dieser Last umzugehen.

Andersen, dessen sensible Charakterzüge Thomas Graw mit nuancenreicher Mimik herausarbeitet, leidet unter seiner niederen Herkunft und versucht, sie zu verschleiern. Im Stück läuft er zu Anfang auf Stelzen, um größer zu wirken.

Er fühlt sich minderwertig, und ihm passieren immer wieder kleine Missgeschicke am Hof des Königs, die er sich sehr zu Herzen nimmt. Frau Heiberg dagegen ertränkt ihre Erinnerungen in Alkohol und Sarkasmus und hat sich nach außen hin ein dickes Fell zugelegt.

Doch im Verlauf ihrer gegenseitigen Seelenschau kommen vor allem bei Frau Heiberg längst verdrängte Erinnerungen hoch. Von Missbrauch und Inzest, Alkoholismus und Judenverfolgung handeln diese Erinnerungen und zeichnen ein düsteres Bild Kopenhagens im 19. Jahrhundert, das für den Zuschauer alles anderer als leichte Kost ist.

So war Johanne Heibergs Elternhaus zerrüttet. Der Vater war Alkoholiker, und die Mutter musste als Wurstverkäuferin den ganzen Tag schuften, um die neun Kinder durchzubringen.

Als Achtjährige war Johanne einem Mann anvertraut worden, der ihre Schauspielausbildung ermöglichte. Sie war sein Kunstwerk, das er aus dem Nichts heraus schuf.

Diesen Eindruck verstärkt in der Inszenierung von István Szabó ein überdimensionaler Bilderrahmen, in dem Johanne gefangen ist.

Johanne bezeichnet den Mann, der sie unterstützte, sarkastisch als ihren "Wohltäter", als einen, "der einen aus dem Dreck holt. Aber dafür muss man bezahlen!" Der Mann forderte immer wieder Küsse von der jungen Johanne, bis aus Selbstschutz eine Eishülle um sie wuchs.

Heike Bänsch gelingt es, die Brüche in der Figur der Johanne überzeugend deutlich zu machen. Kraftvoll und überlegen zeigt sie sich zu Anfang ihres Dialogs mit Andersen, immer öfter kommt dann das naive Kind durch, das sich mit Abzählreimen aufzumuntern sucht.

Nachdem Johanne ihren Wohltäter endlich losgeworden ist, nahm ihr eigener Vater diese Rolle ein und machte seine Tochter zu seiner Frau.

Jetzt wird auch klar, wer die kahlköpfige Alte (Julianna Viczi n) ist, die während des gesamten Gesprächs zwischen Heiberg und Andersen puppengleich mit im Raum sitzt.

Es ist Johannes Mutter, die ob des Inzests in ihrer Familie als Mahnmahl auf dem Klavier sitzt. Anhaltender Premierenapplaus für ein kantiges Werk, das in seiner Abgründigkeit sicherlich nicht jedermanns Sache ist.

Karten: (02 28) 65 29 51

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort