Schauspiel Köln Alice im digitalen Horrorland

KÖLN · Angela Richter hat ein Händchen dafür, interessante Menschen als Gesprächspartner für sich zu gewinnen. Mit Wikileaks-Gründer Julian Assange pflegt sie mittlerweile ein fast freundschaftliches Verhältnis, sie traf Edward Snowden in Moskau, und viele andere Whistleblower gaben ihr bereitwillig Auskunft.

Inkognito: Judith Rosmair alias Angela Richter trifft den maskierten Edward Snowden, verkörpert von Nikolaus Benda.

Inkognito: Judith Rosmair alias Angela Richter trifft den maskierten Edward Snowden, verkörpert von Nikolaus Benda.

Foto: David Baltzer

Und so ist ihr Buch "Supernerds - Gespräche mit Helden" (Alexander Verlag, 9,90 Euro) eine spannende, aufschlussreiche Lektüre. Aber Angela Richter ist ja Theaterregisseurin. Und so galt es nun einmal mehr, aus interessanten Geschichten, aus einer großen Flut von Informationen einen stimmigen Theaterabend zu zaubern. Dies ist in der Premiere im Depot 1 nur selten gelungen.

Das mag auch daran gelegen haben, dass "Supernerds" nicht nur auf der Bühne spielt, sondern parallel dazu das WDR-Fernsehen eine Sendung mit Bettina Böttinger produzierte (in der WDR-Mediathek anzusehen). Hier klärte sie mit dem Netzjournalisten Richard Gutjahr über Spyware für Handys oder Homepages auf, die Bilder von privaten Überwachungskameras liefern - weil deren Besitzer ihre Geräte dort einloggen. Da bleibt einem schon die Spucke weg, wenn Gutjahr die Live(!)-Bilder eines schlafenden Babys in seinem Bettchen vorführt. Gruselige neue Welt.

Auf der Bühne schlüpfen derweil fünf Schauspieler in die Rollen der Whistleblower - und sorgen für einige der berührendsten und eindringlichsten Momente des Abends. Wenn Nikolaus Benda als Edward Snowden fragt, wie viele Menschen man vor dem Hungertod bewahren könnte mit den 75 Milliarden Dollar, die die US-Regierung jährlich in Sicherheitsprogramme steckt, würde man ohne Zögern unterschreiben. Birgit Walter schildert als Jesselyn Radack, wie sie am Flughafen von Sicherheitsleuten gezwungen werden soll, ihre abgepumpte Babymilch zu trinken - um zu beweisen, dass es kein Sprengstoff ist. Yuri Englert verkörpert aalglatt Assange.

Judith Rosmair gibt auf gespenstische Weise einen Einblick in das Seelenleben von Chelsea Manning, der transsexuellen Soldatin, die Videos und Dokumente an Wikileaks weitergab.

Eine WDR-Kamera zeigt sie am Boden kauernd, nur ihr zerbrechlich wirkendes Rückgrat ist zu sehen. Kann so jemand ein Verbrecher sein? Doch Rosmair bringt auch Angela Richter selbst auf die Bühne. Mit staunenden Kinderaugen, Pferdeschwanz und im hellblauen Kleidchen hüpft und springt sie als Alice durchs digitale Horrorland. Mit Barrett Brown (wunderbar manisch: Malte Sundermann) tanzt sie Paso Doble, lässt sich von anderen durch die Luft wirbeln.

Dazu werden Puppen von Jesus bis Merkel von hier nach da geschoben. Und dies ist (einmal mehr) der große Schwachpunkt in Angela Richters Inszenierung: Das Anliegen ist groß, die Bilder, die sie entwirft, bleiben klein. Beliebig. Albern.

Wie auch die Spielereien, in die das Publikum bei diesem "Überwachungsabend" verwickelt wird. Am Eingang begrüßen Security-Männer und ein bellender Hund. Wie am Flughafen muss man durch einen Metalldetektor, um in den Theatersaal zu gelangen. Beim Kauf der Theaterkarte hatte man Handynummer, Wohn- und E-Mail-Adresse, Geburtsdatum und -ort angeben sollen. Im Stück wurden diese Daten genutzt, um zu zeigen, wer links- oder rechtsrheinisch wohnt, oder welche Stadtteile Kölns für Kreditwürdigkeit stehen. Alles weder überraschend noch prickelnd.

Einen Oha-Moment erzeugte der Auftritt des leibhaftigen, wenn auch vorab aufgezeichneten Julian Assange als Hologramm. Doch schon Bettina Böttingers Einstiegsfrage, in der sie seinen Aufenthalt in der Botschaft Ecuadors als Haft bezeichnete, machte klar: Hier geht es nicht um eine neutrale Sichtweise, sondern um Theater (und TV) mit Anliegen.

0 Wieder am 30. Mai, 2. bis 7. Juni, jeweils 19.30 Uhr. Schanzenstraße 6-20. Karten gibt es in den Bonnticket-Shops der GA-Zweigstellen.

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