Allende-Blins Stück "Des Landes verwiesen" bei "Bonn Chance"

Revolution bei einem Glas Roten - Nach zwei Drittel des Abends zu einer Mitmach-Oper geworden

  Vom Dichter zum NS-Schergen:  Mark Rosenthal in "Des Landes verwiesen".

Vom Dichter zum NS-Schergen: Mark Rosenthal in "Des Landes verwiesen".

Foto: Thilo Beu

Bonn. "Nicht die Arbeiter!", fleht ein verzweifelter Erich Mühsam. Gerade hatte er auf eine Mauer aus weißen Steinen Schlüsselbegriffe des Marxismus geschrieben und wortreich den Bogen von der verhängnisvollen Wirkung des Eigentums zum Staat als Unterdrückungsapparat geschlagen. Und dann beginnt jemand, die Schlagworte herauszuziehen.

Als auch der Stein mit der Aufschrift "Arbeiter" entfernt wird, stürzt die Mauer, sprich: das kommunistische System, mit großem Getöse zusammen. Doch der "revolutionäre Internationalist" lässt sich nicht entmutigen und beschwört in einer flammenden Rede ans Publikum im Alten Malersaal die Anarchie als "Verbundenheit Gleicher in Freiheit". Hinter ihm werden derweil aus den Mauerelementen Sitzreihen gebaut.

An dieser Stelle, etwa nach zwei Dritteln des Abends, wird das Stück "Des Landes verwiesen", vom Komponisten Juan Allende-Blin ganz schlicht "konzertante und szenische Aktionen" genannt, zur Mitmach-Oper. Erich Mühsam, gespielt von Roland Silbernagl, lädt die Zuschauer ein, der Anarchie bei einem Glas Wein auf der Spielfläche die Treue zu halten: "Kommt, macht mit!". Erst zögerlich, dann willig begeben sich die Rezipienten nach unten. Fortan sind die Aktionsflächen vertauscht. Vielleicht auch die Rollen?

1978 schrieb der in Chile geborene, seit den fünfziger Jahren in Deutschland lebende Allende-Blin die Szenenfolge über Exil, Unterdrückung, NS-Gewaltherrschaft, über Folter und Tod von Dichtern und Publizisten wie Albert Ehrenstein, Erich Mühsam oder Carl Einstein. Regisseur Florian Lutz nutzt den Freiraum, den die Partitur Allende-Blins lässt, für seine "Bonn Chance"-Inszenierung weidlich aus - zum Vorteil für die Zuschauer, zum Nachteil für die Zuhörer. Aus zwei Sängern (Anjara I. Bartz und Mark Rosenthal) und zwei Schauspielern (Birte Schrein und Roland Silbernagl) wird ein Mittelschicht-Quartett, das sich in privater Runde zum Abendessen trifft.

Beim Glas Roten liest man aus Werken der oder Biografien über die oben Genannten vor, gelegentlich gestört vom pubertierenden, Chips mampfenden Sohn (Tobias Engeli). Der spielt eine eigenartige Doppelrolle, nämlich zugleich die des (hervorragenden) Pianisten. In der Folge vermischen sich Gegenwart und Vergangenheit, Mark Rosenthal wandelt sich vom Gastgeber zu Albert Ehrenstein, Carl Einstein, Pablo Neruda oder in einen NS-Schergen, der den Kontrabassisten zu einem Solo zwingt, Roland Silbernagl gibt mit Baskenmütze den im spanischen Widerstand kämpfenden Carl Einstein.

Später stört eine Flöte spielende Bettlerin (Mariska van der Sande) die Runde. Insgesamt macht Florian Lutz aus den szenischen Aktionen ein sehenswertes, kraftvolles Theaterereignis, eine spannende, unterhaltsame, aber auch beklemmende Doku-Fiktion, die mit einer düsteren, satirischen Begräbnisszene endet. Ins Hintertreffen gerät bisweilen allerdings die überaus feinsinnige, subtil ausgehörte Musik, die durch die Vorherrschaft der Aktion und des Visuellen in die Rolle der Dienerin gedrängt wird.

Musikalisch lässt der Abend nichts zu wünschen übrig. Anjara I. Bartz und Mark Rosenthal bieten stimmlich und darstellerisch Vortreffliches, ebenso packend agieren Birte Schrein und Roland Silbernagl. Mitglieder des Beethoven Orchesters sorgen unter der kundigen Leitung von Christoph Sprenger für eine wunderbar nuancierte Interpretation.

InfoWeitere Vorstellungen am 25. und 27. März sowie am 1., 19. und 23. April. Karten in den Ga-Ticket-Shops.

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