Tanzsolofestival in Bonn Am Ende nackt

Bonn · „Soulèvement“ mit Tatiana Julien hinterlässt ein Publikum mit vielen Fragen. Davor aber geht es mitunter geradezu revolutionär zu.

   Die Tänzerin und Choreografin Tatiana Julien führte ihr Stück im Jahr 2018 erstmals auf.

Die Tänzerin und Choreografin Tatiana Julien führte ihr Stück im Jahr 2018 erstmals auf.

Foto: Hervè Goluza

Laute Rockmusik dröhnt durch den Raum. Das Publikum nimmt zu beiden Seiten der Tanzfläche Platz, kann sich also gegenseitig anschauen. Ein Assistent putzt die Bühne, während eine Frau mit Kopfhörern zu trainieren scheint für den großen Auftritt. Dann beginnt die Show. Im schwarzen Mantel, mit silbernen Sneaker Boots und Sonnenbrille stolziert sie als Diva über den imaginären Laufsteg, genießt den vom Band rauschenden Jubel der Menge, lächelt, verbeugt sich. Im Hintergrund läuft die Life-Aufnahme eines Konzerts der französischen Popsängerin Mylène Farmer mit ihrem Hit „Génération Désenchantée“. Tatiana Julien gehört zu dieser desillusionierten Generation, die sich fragt, was geblieben ist von den Freiheitskämpfen und Utopien. In der französischen Tanzszene zählt sie zu den bekanntesten neuen Choreografie-Talenten und hat mit ihrer Compagnie „Interscribo“ bereits zahlreiche Produktionen kreiert. In ihrem Solo „Soulèvement“ (Aufstand), uraufgeführt im November 2018, also 50 Jahre nach der 68er-Bewegung, widmet sie sich Revolte und Widerstand. Dass zur selben Zeit die „Gelbwesten“-Proteste begannen, war bei der Konzeption des Stückes noch nicht abzusehen. „Soulèvement“ wurde mittlerweile auf vielen französischen Bühnen und bei internationalen Festivals gezeigt und war am Donnerstagabend zu Gast im sehr gut besuchten Ballsaal beim Bonner Tanzsolofestival.

Wie im Disco-Rausch

Nach ihrem Auftritt als einsame schwarze Rocklady tanzt sie im farbig schillernden Trikot wie im Disco-Rausch über die Bühne, mischt verschiedene Urban-Dance-Formen, Catwalk, Hip-Hop und Krumping zu einem ekstatischen Taumel bis zur körperlichen Erschöpfung.

Sound-Designer Gaspard Guilbert hat dazu eine Toncollage aus Techno-Beats, krachenden Revolutionsgeräuschen und Redefragmenten geschaffen. Man hört unter anderem die Stimmen von Martin Luther King, André Malraux und Jack Lang. Dann wird es still, die Tänzerin verschwindet kurz und erscheint barfuß im Boxer-Outfit wieder. Ihre Bewegungen werden energischer, aggressiver, maskuliner. Auf das erträumte Fest der Revolte folgen die Ernüchterung und die kämpferische Reflexion.

Vollkommen nackt als befreiter Körper

Was kann Kunst noch leisten in einer zersplitterten Gesellschaft? Zwischen dem Verlangen nach radikaler Individualität und der Sehnsucht nach kollektiver Aktion, Stadtguerilla und Internet? Ausführlich zitiert sie Camus‘ „Mensch in der Revolte“.

Die Revolte als „condition naturelle“ zeigt sie extrem physisch: vollkommen nackt als befreiter Körper. Das spielt durchaus an auf die sexuelle Revolution, geht in dieser hautnahen Direktheit aber unter die Haut. Sie schüttet sich Wasser über den Kopf, rutscht auf den Spuren bäuchlings oder im Spagat über die ganze Bühne, rennt um die Zuschauerreihen, durchbricht die Distanz und umarmt einzelne Menschen im Publikum. Ein rebellischer, lebendiger Organismus, schutzlos, aber selbstbewusst.

Ein ebenso mutiger wie irritierender Versuch, gesellschaftliche Normen sinnlich zu unterlaufen? Ein Appell, die kollektive Vereinzelung durch unmittelbare Kreatürlichkeit aufzuheben? Nach 60 Minuten nachdenklicher Applaus mit vielen offenen Fragen.

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