Archivar des Jahrhunderts

Walter Kempowski stellt im Bonner Bouvier sein jüngstes Tagebuch vor

  Walter Kempowski  gilt als der Chronist und Archiviar des 20. Jahrhunderts.

Walter Kempowski gilt als der Chronist und Archiviar des 20. Jahrhunderts.

Foto: Fischer

Bonn. "Lesung in Hamburg. Es war übervoll, beängstigendes Gedränge," schrieb Walter Kempowski zwei Tage vor dem Mauerfall in "Alkor", seinem Tagebuch aus dem Jahr 1989.

An das Gedränge wird er sich wohl inzwischen gewöhnt haben. Ist er doch mittlerweile auch bei besonders kritischen Geistern anerkannt als der Chronist und Archivar des 20. Jahrhunderts; dank seiner minuziösen Aufzeichnungen, aus denen sowohl die Tagebücher als auch die Bände seiner "Deutschen Chronik" und das im letzten Jahr vollendete "Echolot"-Projekt entstanden sind.

Nach dem "Echolot", dem kollektiven Tagebuch aus den Jahren 43 bis 45, macht er nun da weiter, wo er bei "Alkor" aufgehört hat: im Jahr 1990, dem Jahr der Wiedervereinigung.

Im Mittelpunkt steht die Heimat - jenes, wie er schreibt - "abgegriffene Wort", das im Dialekt des Erzgebirges persönlicher und so viel zärtlicher klingt.

Doch wie immer, wenn sich die Erinnerung mit der Sehnsucht paart, bleibt die Enttäuschung nicht aus, als sich Kempowski im Januar 1990 zusammen mit seinem Bruder in seine "Heimat"-Stadt aufmacht.

Der Anblick von Rostock erschreckt ihn: überall Schlaglöcher, provisorisch restaurierte Häuser, Kohlegestank in der Luft.

Die Tagebuchaufzeichnungen, die Kempowski für seine Lesung bei Bouvier in Bonn gewählt hat, geben komprimiert so vieles von dem wieder, was sein Leben geprägt hat: die Zeit in Bautzen, wo er acht Jahre lang wegen angeblicher Spionage inhaftiert war, der Bruder, der nur "auf Bewährung" entlassen wurde, Kempowskis Neuanfang im schleswig-holsteinischen Nartum, wo er zunächst als Lehrer tätig war, seine Ehe mit Hildegard.

Nebensächlichkeiten mischen sich mit geschichtlich Relevantem, kritische Anmerkungen zur Politik kommen gewohnt spöttisch daher, und auch Seitenhiebe auf den Literaturbetrieb bleiben nicht aus.

Einer der Tagebucheinträge, die er seinem Bonner Publikum zu Gehör bringt, scheint wie für die Lesung bei Bouvier geschrieben. Im März überlegt er, was ihm bei seinen "Lecture-Tours" wichtig ist: ein angenehmes Hotel etwa, wo man klingeln und sich den Kakao bringen lassen kann, "wie in Bonn auf dem Venusberg."

Er stimmt ein Lied an: "Wo findet die Seele die Heimat, die Ruh'?". Und als niemand mitsingen kann, bemerkt er keck: "Sehen Sie, Sie wissen nichts mehr! Deshalb ist es nötig, dass ich alles aufschreibe!"

Walter Kempowski: "Hamit. Tagebuch 1990". Knaus, 432 S., 24,95 Euro

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