Jonathan Franzens neuer Roman "Unschuld" Blick in den zersplitterten Spiegel

Pip Tyler ächzt unter Studienschulden, leidet an ihrer einsiedlerischen Mutter, sucht den verschollenen Vater - und hasst ihren eigentlichen Vornamen: Purity, also Reinheit. So heißt Jonathan Franzens aktueller Roman auch im englischen Original, doch der deutsche Verlag taufte ihn aus unerfindlichen Gründen in "Unschuld" um.

 Milieuzauberer: Jonathan Franzens Roman gleicht einem genial geplanten, imposanten Schloss.

Milieuzauberer: Jonathan Franzens Roman gleicht einem genial geplanten, imposanten Schloss.

Foto: dp

Letztere hat Andreas Wolf schon in der "Republik des schlechten Geschmacks" verloren. Als privilegierter Sohn eines hohen DDR-Politikers fiel er durch staatszersetzende Verse in Ungnade und entwickelte als Jugendhelfer ein fatales Faible für gefallene Mädchen. Bis er seine große Liebe traf und für sie tötete.

Bittere Ironie: Der Mann muss sein nur mit dem amerikanischen Freund Tom Aberant geteiltes Geheimnis hüten und betreibt heute aus dem bolivianischen Busch eine weltweit beachtete Internet-Enthüllungsplattform. Ein mörderischer Aufklärer.

Wie Pip in seinen Bann gerät, was mit der Leiche am Müggelsee und einem mysteriösen Milliardenvermögen geschieht und wie die Vatersuche endet - all das und viel mehr erzählt der amerikanische Autor ("Die Korrekturen", "Freiheit") auf mehr als 800 Seiten. Doch wie lässig-selbstironisch er diesen Koloss samt des immensen Erwartungsdrucks schultert, bezeugt die Klage einer seiner Figuren: "Früher hatte es genügt, ,Schall und Wahn' oder ,Fiesta' zu schreiben. Heute dagegen war Umfang unerlässlich. Dicke, Länge."

Der Roman des 56-Jährigen gleicht einem genial geplanten, imposanten Schloss: mit Rückblenden als eleganten Wendeltreppen zwischen den Geschossen und mit verlockend dunklen Korridoren. Mag sein, dass man sich hier nie recht heimisch fühlt, aber man streift lustvoll durch völlig verschiedene Flügel und Zimmer.

Der Milieuzauberer Franzen beschwört alles gleichermaßen glaubwürdig: den DDR-Mief wie das vegane kalifornische Gutmenschen-Ghetto, Studenten-WGs wie das südamerikanische Camp des mephistophelischen Menschenfängers Andreas Wolf. Von dem heißt es: "Der beste Freund, den er je gehabt hatte, war die Stasi - bis er das Internet kennenlernte." Zwei totalitäre Systeme also, verbunden durch ihre unersättliche, jede Intimität verletzende Wissbegierde? Man mag dies für einen kühnen Kurzschluss halten, doch Franzen gibt hier durchaus bewusst dem klassischen Recherche-Journalismus den Vorzug vor den neuen Whistleblower-Popstars. So ist "Unschuld" Medien- wie Bildungsroman und vereint gleich mehrere Familiendramen und -krimis.

Klingt anstrengend, ist es aber nicht, denn Franzen leuchtet alle Charakterschluchten bis in den letzten Winkel aus. Außerdem erschafft er bis in die Nebenrollen vollplastische Figuren. Etwa den pompösen Kollegen Charles, der sich am großen Roman verhebt und über "eine wahre Plage an Literatur-Jonathans" jammert. Gerade in den intimen Momenten (wie Pips kläglich scheiterndem Beischlaf mit dem bedauernswerten Jason) brilliert Franzen als Epiker der Peinlichkeit.

Dass weibliche Schönheit wie bei Wolfs Annagret und Aberants Anabel stets neurotisch kontaminiert ist, wirkt zwar geschlechterpolitisch unkorrekt. Doch ohnehin liegt hier zwischen Eltern und Kindern, Männern und Frauen so gut wie alles im Argen. Auf verkorkste Hochzeitsnächte folgen Katastrophen-Ehen. Der reichlich servierte Sex tritt eher als verschwitzter Feind der Liebe auf, während Nähe meist an erstickende Besitzgier grenzt.

Nein, das ist kein optimistisches Buch, sondern ein schonungsloser Blick in den zersplitterten Spiegel der Gegenwart. Darin sieht man einiges bestürzend klar: Die Fata Morgana virtueller Welten, das Schwinden alter Gewissheiten, die Entfremdung der Geschlechter. Aber, und das ist der größte Trumpf dieses Buchs: Jonathan Franzen lamentiert nicht, sondern er erzählt fesselnd: Wie Andreas Wolf von seiner Tat zerfressen wird - und wie Pip womöglich gegen jede Chance doch noch ihr Glück macht.

Jonathan Franzen: Unschuld. Roman, deutsch von Bettina Abarbanell und Eike Schönfeld. Rowohlt, 830 S., 26,95 Euro.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Die Stunde der Sieger
Abschluss Deutscher Musikwettbewerb in Bonn Die Stunde der Sieger
Zum Thema
Aus dem Ressort