Roger Willemsen "Das Hohe Haus" - Rituale unter der Reichstagskuppel

BONN · Er leide am "großen Ausstoß an Floskeln, die nicht mehr gefüllt werden", an einer Rhetorik im Bundestag, "die nichts anderes tut, als Verödungszonen auszudehnen": Als die Klage von Roger Willemsen, Literat und TV-Prominenz, im Gespräch mit dem Bundestagspräsidenten Norbert Lammert in der vergangenen Woche in der "Zeit" zu lesen war, hatte Willemsen die Leiden am deutschen Politikbetrieb schon hinter sich.

Ein Jahr lang, 22 Sitzungswochen, ungezählte Stunden hat er im "Hohen Haus" auf der Zuschauertribüne ausgeharrt, hat mitgeschrieben, Höhen und Tiefen des parlamentarischen Alltags miterlebt. Lammerts Antwort auf Willemsens Lamento: "Die Vermutung, die Persönlichkeiten im Parlament seien immer weniger überzeugend und die großen Zeiten vorbei, ist ebenso weit verbreitet wie kurzatmig. So etwa alle zehn Jahre wird die ausgeschiedene Politikergeneration der jetzigen als leuchtendes Beispiel vorgehalten."

Willemsens parlamentarischer Selbstversuch entpuppt sich als fast 400 Seiten langer, phasenweise arg zäher Chronistenbrei, was nicht am Autor liegt, der aus der ödesten Bundestagsfragestunde noch literarische Funken schlägt und bei intellektueller Ebbe im Plenum dann eben seinen Geist durch die Reichstagsarchitektur und über hehre Felder demokratischen Kampfes und Selbstverständnisses flanieren lässt.

Der 59-jährige Bonner hat 2013 nur wenige parlamentarische Sternstunden erlebt - und das bei einem Jahr mit einer perfekten Dramaturgie, mit großen Themen vom NSA-Skandal bis zur Frauenquoten-Debatte, einem Wahlkampf-Showdown, einem Regierungswechsel, einer abstürzenden FDP und einer wendehalsigen SPD als neuem Junior-Regierungspartner. Was haben die Volksvertreter mit diesem Füllhorn getan, um das Volk und Willemsen als Chronisten zu unterhalten? Herzlich wenig.

Das politische Jahr beginnt mit der Neujahrsansprache, die Willemsen als "Manifestation ritueller Zwecklosigkeit im interesselosen Raum" empfindet. Rituale anderer Art werden dem Autor immer wieder begegnen. Gespieltes und tatsächliches Desinteresse, leere Bänke, gnadenlose Stille sollen den politischen Gegner mürbe machen.

Die Fallhöhe unter der Reichstagskuppel ist immens. Da gibt es Stilblüten wie "Als Sozialdemokratie sagen wir, dass Ernährung ein elementarer Bestandteil der Daseinsvorsorge ist" (Matthias Miersch, SPD). Das hört man in einer Agrardebatte, in deren Verlauf der Tierarzt Hans-Michael Goldmann (FDP) diesem Politiker-Parlament seltene Einblicke in die Realität auf dem Lande verschafft.

Der Mann auf der Besuchertribüne hat kindische Scharmützel à la "aufgeblasener Kerl" und "schauen Sie mal ihre Totalausfälle an! Die sitzen heute hier" erlebt, hat abgründigen Zynismus gespürt, wenn von einer Zunahme an Armutsberichten, aber nicht an Armut im Hohen Haus geredet wird. "Es gibt Momente, in denen man dem Parlament die Verachtung zurückgeben möchte, mit der es seine Bürger bisweilen behandelt", kommentiert Willemsen.

Der Autor hat seine Hassobjekte und wenige Lieblinge. Familienministerin Kristina Schröder wird modisch gewürdigt, "im weißen Anzug" (wie überhaupt die meisten Frauen - und nicht die Männer), und als frühreife Doktorandin gezeichnet; Rainer Brüderle (FDP) "zermatscht Silbentrauben im Mund", Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) stört und schwätzt unentwegt; "Warum Neumann das Parlament besucht hat? Um ein Bild abzugeben."

Und dann die Kanzlerin. Angela Merkel erscheint "im üblichen Brustpanzer", der Autor analysiert brillant: "Bei ihr wird der Sprechakt nur bezeichnet, nicht durchgeführt. Sie sagt, dass sie sagt, was sie gerade gesagt hat. Auch in dieser elliptischen Form verrät sich ein politischer Stil. (...) Sie chloroformiert ihr Publikum." Merkel ist für Willemsen Exponentin "dieser Zeit, die keine Charaktere, keine Schurken, keine Erlöser sucht, eher Sachbereiter, morphologisch schwächer differenzierte, reibungsarme Instanzen, die Macht durch Zuschreibung bekommen".

Und der Gegenpart Peer Steinbrück? "Es lastet eine Bürde auf ihm - nicht die der Kanzlerinnenrede, sondern die der Erwartung jener großen Rede, die er auch heute nicht halten wird." Willemsen ist stark in der Beschreibung des Showdowns unter der Reichstagskuppel, wobei es weniger um Inhalte denn um Körpersprache geht, um Rituale demonstrativem koalitionären Desinteresses bei Steinbrücks Rede: "Die Kanzlerin redet lieber mit Rösler, Seibert tippt. Leutheusser-Schnarrenberger bespricht sich mit Friedrich, Westerwelle surft weiter, Schröder durchwühlt ihre Handtasche, von der Leyen schreibt handschriftlich."

Wie kurzlebig das Ritual politischer Frontstellungen ist, offenbart nach der Wahl und den Koalitionsverhandlungen die Rede von SPD-Mann Niels Annen, die mehr als nur ein Friedensangebot ist. "Eine Ranschmeiße deluxe nach vier Jahren Krieg der Welten und Weltanschauungen, und dazu ein paar Grüne, die auch noch mitklatschen", schäumt Willemsen, der auch hier eher, buchstäblich von oben herab, pessimistisch und angewidert auf den Durchlauferhitzer Bundestag blickt.

Das Parlament kommt schlecht weg. Willemsens Hinweis auf die verborgene Gestaltungsmacht auf der Arbeitsebene - in Gremien und Ausschüssen - vermag das Bild des Hohen Hauses nur unvollständig zu korrigieren.

Denn unter der Kuppel regiert permanentes Schaulaufen, punkten eine Ansammlung von Gesten, Posen und Attitüden. Oft genug ist es "ein Parlament auf Klassenfahrt". Der fleißige Willemsen war dabei - hat aber leider 200 Seiten zu viel geschrieben.

Roger Willemsen: Das Hohe Haus. Ein Jahr im Parlament. S. Fischer, 398 S., 19,99 Euro

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