Staat und Gesellschaft nach Köln Die Entfremdung

Ausgelassene Stimmung – Feiern weitgehend friedlich, meldet die Kölner Polizei in ihrer Pressemitteilung am Neujahrstag.

Nur kurzfristig habe man die Treppe zum Dom räumen müssen, aber: „Trotz der ungeplanten Feierpause gestaltete sich die Einsatzlage entspannt – auch weil die Polizei sich an neuralgischen Orten gut aufgestellt zeigte.“ So weit ein Auszug aus der Schilderung des Geschehens, von dem inzwischen alle Welt weiß, dass alles ganz anders war. Zehn Tage später liegen mehr als 650 Anzeigen vor. Und in einem Dutzend anderer deutscher Städte hat es ähnliche Jagdszenen gegeben wie in Köln. Auch dort bemühten sich staatliche Stellen bemerkenswert ausdauernd, das Ausmaß herunterzuspielen.

In George Orwells Roman „1984“ ist das „Ministerium für Wahrheit“ dafür zuständig, Stellungnahmen der Parteielite mit den tatsächlich eingetretenen Fakten in Einklang zu bringen und notfalls auch Dokumente aus der Vergangenheit zu „überarbeiten“. Angesichts solch dystopischer Handlungsstränge mag man sich davon beruhigen lassen, dass wir es in Deutschland derzeit „nur“ mit amtlichen Fehleinschätzungen und Kommunikationspannen zu tun haben, wie es jetzt aus Landes- und Bundesministerien verlautet. Doch nach dem tagelangen Schweigen der Behörden und deren widerwilligem Eingeständnis von Fehlern, gepaart mit medialer Herumdruckserei, fragen sich viele Bürger: Was wird eigentlich noch alles beschönigt, verschwiegen und zurechtgebogen?

Nicht gerade besser machen es die authentischen Einsatzberichte, die vorbei an den Behördenleitungen den Weg an die Öffentlichkeit fanden: „Es waren einfach zu viele zur gleichen Zeit“, so heißt es hilflos an einer Stelle über die Täter am Kölner Hauptbahnhof. Die Tatsache, dass unter den Augen von immerhin 200 Polizeibeamten im Herzen der viertgrößten Stadt Deutschlands massenhaft Frauen und Mädchen sexuell bedrängt werden können, verstärkt eine Entwicklung, über die sich eigentlich nur jene freuen können, denen ohnehin an einer Erosion des Staatsgefüges gelegen ist: Die Deutschen verlieren ihr Vertrauen in den Staat und seine Autoritäten.

Wie groß die Verunsicherung ist, zeigt eine aktuelle Studie: 30 Prozent der Bürger wollen nach den Ereignissen von Köln größere Menschenansammlungen meiden, wie eine Umfrage von Infratest Dimap für die ARD ergeben hat. Bei den Frauen sind es 37 Prozent. Unterläuft staatlich organisierte Tatenlosigkeit das in Artikel 11 verbriefte Grundrecht auf Freizügigkeit? Es gebe keine rechtsfreien Räume, behaupten Politiker selbst angesichts der Übergriffe der Silvesternacht.

Der Begriff der „No-Go-Areas“ ist ministeriell verpönt, während Polizeibeamte von vorderster Front (und hinter vorgehaltener Hand) ganz anderes berichten, etwa vom Krieg ausländischer Familienclans auch gegen Polizei und Justiz. Doch es ist nicht nur die Innere (Un-)Sicherheit, die viele Bürger inzwischen dazu veranlasst, zum Staat eine Armlänge Abstand zu halten, um es mit den Worten der Kölner Oberbürgermeisterin zu sagen, bei deren Wahlsieg im vergangenen Oktober sich 60 Prozent der Kölner gar nicht erst auf den Weg ins Wahllokal machten.

Somit machen Wahltage die Kluft zwischen Staat und Gesellschaft messbar, auch wenn zweifellos vieles reibungslos funktioniert – vor allem dann, so ist man versucht zynisch zu sagen, wenn der Staat etwas vom Bürger will. Schwieriger ist es oft umgekehrt, ob es nun um einen neuen Personalausweis im Bonner Bürgeramt geht oder um schonungslose Aufklärung im Bauskandal um das WCCB oder die mögliche staatliche Verstrickung in die Mordserie des „Nationalsozialistischen Untergrunds“.

Was ist von staatlichen Stellen zu halten, die in der Hauptstadt einer der wichtigsten Industrienationen der Welt nicht einmal mehr den Bau eines Flughafens zustande bringen? Die trotz erheblicher Ungereimtheiten ungeklärte Todesfälle wie den des Bonner Studenten Jens Henrik Bleck zu den Akten legen? Denen Juristen wie zuletzt der frühere Bundesverteidigungsminister Rupert Scholz im Zusammenhang mit der Asylpolitik oder zuvor andere hinsichtlich der „alternativlosen“ Rettung des Euro staatlich organisierte Rechtsbrüche vorhalten?

„Noch nie war in der rechtsstaatlichen Ordnung der Bundesrepublik die Kluft zwischen Recht und Wirklichkeit so tief wie derzeit“, sagte diese Woche der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, in einem Zeitungsinterview. Die Flüchtlingskrise offenbare ein „eklatantes Politikversagen“.

Politikversagen schafft kein Vertrauen; schon gar nicht, wenn den Volksvertretern die Argumente auszugehen scheinen. Dabei kann kein Staat ohne das Vertrauen seiner Bürger bestehen, wie sich um 1989 nicht zuletzt im Ostblock zeigte. Mit der Entstehung der modernen Staaten hatte der Bürger im Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der Institutionen einen Teil der persönlichen Freiheit in die Hände des Staates gelegt, der im Gegenzug Sicherheit versprach und gab und einen Teil der Daseinsfürsorge übernahm. Wo sich der Staat hingegen als Sicherheitsrisiko entpuppt, nimmt dieses Vertrauen massiven Schaden.

Wenn Regierungsvertreter jetzt nach dem starken Rechtsstaat und schneller Abschiebung rufen, wirkt das jedoch nicht vertrauensbildend, sondern kraftmeierisch. Zumal dann, wenn dieselben Kabinettsmitglieder ohne Parlamentsbeschluss die unkontrollierte Einreise veranlasst und all jene wahlweise als „Dumpfbacken“ oder „Hetzer“ bezeichnet haben, die vor Ereignissen wie in Köln gewarnt hatten.

Angela Merkel habe sich mit dem denkbar mächtigsten Gegner angelegt: der Wirklichkeit, schrieb „Handelsblatt“-Herausgeber Gabor Steingart dieser Tage. Wenn Politiker wieder beherzigen, dass Vertrauen erst auf Grundlage einer verlässlichen Haltung verdient und durch Handeln mit Augenmaß und Weitblick rechtfertigt sein will und nicht mit der Währung des Aktionismus käuflich ist, dann haben sie die Chance, verlorenes Terrain zurückzugewinnen. Und dann liegt sogar in Katastrophen wie Köln eine Gelegenheit zur Versöhnung. Andernfalls schreitet die Erosion voran.

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